Walfach

Blick auf das Meer. Wellen mit Schaumkronen rollen ans Ufer.

In der Delfinschule herrschte große Aufregung. Für das Schuljahr nach dem großen Schwimmen, wenn die älteren Meeresbewohner sich einige Zeit zurückzogen, um mit Nachwuchs zurück zu kommen, hatte die Lehrerin Frau Kraken eine Neuerung angekündigt. Und nun war es endlich soweit. Alle Delfinkinder flosselten um ihre Plätze herum und konnten es nicht erwarten.

Frau Kraken schwang sich mit ihren Tentakeln in den Kreis der unruhigen Schüler. „Ruhe bitte! Kinder! Haltet endlich still und hört auf zu keckern!“

Langsam senkte sich eine unbeständige Ruhe über die Klasse. Trotzdem war die Spannung auf den Flossen zu sehen. Macki, der Klassensprecherdelfin, traute sich endlich die von allen erwartete Frage zu stellen: „Frau Kraken, was ist das neue Fach in diesem Schuljahr?“ Die Lehrerin tänzelte beschwingt auf ihren Tentakeln über den Meeresboden, sichtlich erfreut über die Neugier in der Klasse. „Nun, ich habe mir gedacht, wir könnten den Unterricht etwas, hm, nun, praktischer gestalten. Wir haben ansonsten nur aus den Algenbüchern der Vergangenheit gelesen. Ich denke, es ist an der Zeit, dass ihr eure Umwelt anders erfahrt. Theorie ist nur die Grundlage. Jetzt geht es an das richtige Leben.“

Unruhe breitete sich wieder in der Klasse aus und Frau Kraken drückte leicht auf den Beruhigungstintenfisch. Eine kleine Wolke dunkler Tinte ergoss sich in der Mitte der Klasse. Sofort kehrte Ruhe ein. „Gut, dann kann ich ja weiter erklären. Ihr habt bereits viel über die Mitlebewesen in diesem Gewässer erfahren. Jetzt wollen wir dieses Wissen festigen, prüfen und erweitern. Das werden wir nur schaffen, wenn wir die Mitbewohner selber so richtig kennenlernen. Dafür haben wir Lehrer für euch ein neues Gerät beschafft.“ Frau Kraken nestelte zwischen ihren Tentakeln herum und zog einen kleinen Gegenstand hervor. Er war an einem Ende leicht rot, lief dann über das gesamte Spektrum der Farben hin zu einem sandigen Weiß. Ein Trichter aus Kalk steckte in dem kleinen Kasten.

Die Klasse flosselte nervös um die Lehrerin mit dem kleinen Kasten herum, das Tuscheln und Keckern der Delfinschüler wurde lauter. Frau Kraken reckte eine Tentakel in die Höhe. „Das ist ein Korallenrekorder. Damit kann man die Sprache des Meeres aufnehmen. Wir wollen diese kleinen Geräte benutzen, um unsere Umwelt zu interviewen. Und genau das ist eure Aufgabe. Ihr sucht euch einen Meeresbewohner aus und versucht so viel wie möglich aus seinen Erzählungen zu erfahren.“

Frau Kraken gab den jungen Delfinen weitere Instruktionen zu der anstehenden Aufgabe. Die Klasse war kaum noch zu halten und mehr als einmal drückte sie den Beruhigungstintenfisch. Die Schüler hatten ab heute bis zum Vollmond Zeit, ihre Interviews fertigzustellen. Als sie die Schüler losschickte, konnte sie für einige Minuten im aufgewirbelten Sand kaum etwas erkennen. Frau Kraken war zufrieden.

Macki war der beliebteste aller Delfine. Klassensprecher und Mannschaftsführer beim Seeigelkicken. Mehr konnte man kaum verlangen als Schuldelfin. Um ihn herum versammelten sich einige aus der Klasse und erwarteten seine Ideen. Macki, von Natur aus nur für die große Aufgabe zu gewinnen, blickte sich um. In seinem Kopf schossen die Bilder der ihm bekannten Meeresbewohner hin und her. Da! Der Buckelwal. Kraftstrotzend. Der war einfach genial. So kräftig, so unheimlich und so, ja, eben das was man von ihm erwarten würde. Macki, der Klassensprecherfisch und Mannschaftsführer, würde mit seiner Gruppe einen Bartenwal interviewen.

Sie waren zehn junge Delfine, bewaffnet mit ihren Korallenrekordern, auf der Suche nach einen Buckelwal. Macki führte die Gruppe an. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie fündig wurden. Beinahe hätten die anderen Delfine die Lust verloren, aber Macke trieb sie weiter. Hinter dem großen Riff sahen sie dann erst die gewaltigen Schatten auf dem Meeresboden schweben, dann die stolzen Körper selber. Ohne auf ein Kommando zu warten stürzten die Delfine sich auf einen der Wale in ihrer Nähe.

Macki war natürlich schneller als alle anderen und tauchte unverhofft vor dem großen Auge des Wals auf. Dieser erschrak nicht gerade, schien aber auch nicht sonderlich erfreut zu sein. Nach und nach poppten die anderen Delfine im Sichtfeld des Wals auf. Irritiert blickte er von einem zum anderen, zuckte kurz mit dem Buckel und wendete sich mit einem Flossenschlag von den Jungtieren ab. Die ließen jedoch nicht locker. Es gab immerhin eine Schulaufgabe zu lösen!

Immer wenn Macki zu einer Frage ansetzen wollte, kamen seine Verfolger und plapperten ohne Umschweife auch auf den Wal ein. Das Wasser um den Kopf des alten Wales war wie von Sinnen, es kochte und die keckernden Geräusche der jungen Delfine ging ihm zusehends auf die Walnerven. Immer wieder wand er sich, aber es gab kein Entkommen vor der jungen, neugierigen Meute. Dann hielten sie ihm auch noch so kleine Kästen entgegen.

Sie hatten nun den alten Wal seit Stunden in der Mangel, aber noch keiner hatte auch nur ein Wort, eine Information aus ihm herausbekommen. Er wand sich immer wieder von ihnen ab, sie schwammen hinterher, wieder in sein Sichtfeld, keckerten herum, hielten ihm die kleinen Korallenrekorder ins Gesicht, löcherten ihn mit Fragen. Er war genervt, aber er durfte den Kindern natürlich nichts tun. Das Verbot sich einfach.

Macki ging dazu über, den Wal nicht nur mit Fragen und seinem neuen Gerät zu malträtieren, er tippte ihm mit seinen Flossen auch ständig irgendwo herum. Der Wal erinnerte sich an die ruhigen, einsame Zeiten, wie schön es war durch die Wasser zu ziehen, den Strömen mal entgegen, mal mit ihnen. Und dann, vollkommen unverhofft, als es unerträglich wurde, diese keckernden, schwirrenden und löchernden Jungdelfine zu ertragen, ergoss sich ein langgezogener, befreiender Ton aus dem Wal. Er hörte nicht mehr auf und klagte über viele Kilometer sein Leid. Wie sie ihn ausfragten, wie sie ihn nervten.

Mackie nannte es später, in einem Anflug von besonderer Intuition, Walgesang. Er hatte nichts, keine Information aus dem Leben der Wale, keine persönlichen Erfahrungen auf dem Korallenrekorder, außer seinem Walgesang. Alle andere Jungdelfine hatten bereits aufgegeben und ihre Geräte ausgeschaltet, als sich der Wal laut bei seinen Artgenossen beschwerte. Frau Kraken war erst erstaunt, dann begeistert. Für das nächste Schuljahr setzte sie ein neues Fach für die kommenden Schüler an: Walfach. Alle waren begeistert, nur die Wale nicht.

Aus dem Leben

Wenn du in jungen Jahren die Stadt wechseln musst, all deine Freunde hinter dir lässt, weil deine Eltern das so bestimmt haben, bist du nicht das glücklichste Kind. Auch wenn es von Vorort zu Vorort geht, die Umgebung ähnlich ist, aber die Wohnung eben ganz anders, das Haus voll mit anderen, fremden Menschen, lauten Menschen, dann trägt das nicht weiter zur Umgewöhnung bei.

Tagsüber die fremden Kinder in der Schule, nachmittags mit der Mutter allein, weil Vater in anderen Ländern das Geld verdient. Hinten aus den Fenstern blickst du auf unzählige andere Fenster, mit Gardinen, ohne Gardinen, geputzt oder dreckig, mit Gesichtern, die auch hinaus schauen, ohne Gesichter und manchmal auch, so denkst du, weil sie immer leer sind, die Scheiben und Rahmen, manchmal auch ohne Menschen in den Räumen dahinter.

Schaust du vorne raus, siehst du die Frittenbude, deren Fettgestank die Straße beherrscht, wenn im Sommer nur ein leichter, heißer, abgestandener Wind geht, morgens, wenn das Fett abgetragen von der Nacht auf den Steinen liegt, dreht sich leise die Lüftung des Kühlhauses des kleinen Ladens an der Ecke und drückt den Geruch rohen Fleisches in die Straße.

Nein, du bist nicht sonderlich glücklich mit dem Ortswechsel. Aber es interessiert niemanden. Jammer nicht, heißt es, such dir neue Freunde, bist doch sonst nicht so verklemmt.

Freunde suchen, in einem Umfeld, das du bisher so nicht kanntest. Rechts unten wohnen Alkoholiker mit drei Kindern, ein Junge in deinem Alter. Hinterhältig und gemein ist er. Aber auch ohne großen Freundeskreis. Man findet sich halt. Links im Haus nebenan, diese Familie mit sechs Kindern, von unterschiedlichen Männern, niemand geht arbeiten. Halt dich davon fern, heißt es eindringlich. Doch genau dort findest du deinen besten Freund, zwar erst viel später, aber er ist das, was einen Freund ausmacht. Die Erkenntnis kommt dir leider beinahe zu spät, weil ihr dann schon kurz davor seid volljährig zu werden und sich eure Wege bald trennen werden. Bis dahin ist es aber ein langer Weg, den du erst einmal mit den falschen Leuten antrittst.

Es gibt nicht viel, was Kinder zwischen den Häuserschluchten machen können. Ein verrottender Abenteuerspielplatz wird durch Garagen ersetzt, der Spielplatz ist bald von Müttern mit Kleinkindern besetzt, die euch nicht haben wollen. Ihr seid zu grob, zu laut und zu unflätig. Vielleicht haben sie recht. Vermutlich stimmt es.

Deswegen spielt ihr auf den Garagendächern, mit Fußbällen zwischen den Garagen, dass es bis nach Warschau hallt. Der Sportplatz ist unter der Woche geschlossen und wer sich darauf erwischen lässt, ist dran. Der Platzwart ist ein so furchteinflößender Mensch, dass sich niemand in dem kleinen Ort, wo jeder jeden kennt, auch nur daran denkt, den Platz ohne Erlaubnis zu betreten. Wir Siedlungskinder haben eh keine Erlaubnis zu erwarten, außer die Eltern bezahlen den Beitrag, dann darfst du zu Trainingszeiten erscheinen und dich vom Trainer anschreien lassen.

Das Gewummere der Bälle an den Blechtoren der Garagen ruft nach nur kurzer Zeit den Verwalter auf den Plan. Er wohnt nur ein oder zwei Eingänge entfernt in seiner Verwalterwohnung. Sein Sohn ist schon erwachsen, aber nicht ganz klar im Kopf, wie uns scheint. Er kommt uns sonderbar vor. Sein Vater auch. Ein Choleriker wie er im Buche steht. Schreit los, noch bevor sich die Haustür hinter ihm geschlossen hat. Wäre er intelligenter vorgegangen, er hätte uns übermütigen Schnösel alsbald am Schlafittchen gehabt. So aber entziehen wir uns ihm unter lauten Gebrüll unsererseits, was sein Gezeter nur noch anheizt und bald ist das Gewummere der Bälle an dem Blech der Garagentore nur ein leises, zartes Harfenspiel. So geht es den Sommer über. Wir legen es darauf an, dass er wild brüllend aus seiner Wohnung gerannt kommt und wir ziehen uns, ihn beständig weiter provozierend, in sichere Entfernung zurück.

Ich muss heute gestehen, dass wir uns in dieses Spiel hineinsteigerten. Eines Tages, als wir ihn wieder aus der Wohnung geholt hatten, stiegen wir auf die Garagen und setzten dort unsere Schimpftiraden fort, während er unten zwischen den Garagen mit seinem steifen Bein, krebsrot im Gesicht, herum humpelte und uns drohte. Wir lachten, bis die Tränen aus unseren Augen rannen. Irgendwann gab er auf, er konnte ja mit seinem Bein nicht auf die Garagen klettern, selbst wenn, wir wären schneller weg, als der Pfarrer Amen sagen kann.

Also stiegen wir, uns in Sicherheit wiegend, von den so oder so verbotenen Garagendächern herab. Plötzlich fanden wir uns zu zweit von starken Armen geschnappt und konnten uns nicht winden, nicht entkommen. Sein Sohn. Angst schoss uns in den Magen und die Übelkeit siedete in der Säure. Was würde er mit uns machen? Wir hielten ihn ja nicht für ganz dicht. Würde er uns prügeln? Vorerst hielt er uns nur fest; wie sich später herausstellte, war er sich der Wirkung seiner Kraft durchaus bewusst.

Er steckte seinen Kopf zwischen unsere beiden und sprach ruhig in jeweils eines unserer Ohren: „Lasst doch meinen Papa in Frieden. Er ist es nicht gewohnt mit Kindern umzugehen. Deswegen muss er dann immer so brüllen. Früher hat das Mama ja gemacht, sich um mich und meine Schwester gekümmert. Dann ist sie gestorben und er war alleine. Ganz plötzlich musste er sich um uns Kinder kümmern. Das war nicht leicht. Ich weiß nicht, ob ihr euch das schon vorstellen könnt, aber es ist nicht leicht für einen Mann, der sein Leben nur in der Arbeit war, plötzlich mit zwei Kindern alleine zu sein. Die Verantwortung, der Verlust der Arbeit. Ich bitte euch, lasst ihm seine Ruhe.“

Wie es meinem Freund dabei erging weiß ich nicht, aber ich sah mich selber, nach dem Umzug in diese Gegend, mit all den unbekannten Dingen, ohne Freunde, alleine zwischen den Häusern anfänglich und erinnerte mich, wie schwer es war hier klar zu kommen. Wie schwer es im Grunde immer noch war und wir deswegen einen alten Mann ärgern mussten, bis sein Sohn, der gar nicht blöde sondern extrem freundlich und gesittet war, uns ins Gewissen reden musste. Irgendwo in der Ferne machte es ein Geräusch, als wenn ein rostiges Zahnrad in ein anderes einrastet und unsere Charakterstufe wurde um eins erhöht. Von da an wurde der alte Mann unbeachtet gelassen und Mädchen rückten in den Fokus. Aber das ist eine andere Geschichte.