Bequem

Natürlich ist für uns schön, wenn es im Leben bequem ist. Bequem ist ja nichts schlechtes, sondern etwas, das wir uns aufgebaut haben und genießen können. Nicht alles ist bequem, was uns zum Glück aus der Komfortzone raus holt.

Schwierig wird es, wenn sich die Bequemlichkeit allmählich in Dekadenz verwandelt. Die Wahrnehmung verändert sich und die Bequemlichkeit wird als vollkommen normal angesehen, ja, als Maß aller Dinge hergenommen.

In unserem Verhalten verwandeln wir uns nach und nach in alles verschlingende Konsumenten, deren eigene Leistung darin besteht, zu kritisieren was andere erschaffen. Vielleicht ist das die Langeweile, die dem ständigen Konsum ein enger Verwandter ist. Vielleicht der Neid, nicht selber erschaffen zu können, vielleicht das Bewusstsein, dass wir genau wissen was los ist, wir es aber nicht ändern wollen.

Als Konsumenten haben wir unsere Verantwortung abgegeben und wurden selber zum Produkt. Aber in der dekadenten Bequemlichkeit kam das gerade recht, denn Verantwortung kann belasten und Stress verursachen.

Jetzt bricht aus der bequemen Ecke ein großes Stück einfach weg. Vermutlich unwiederbringlich. Es ist ein Augenöffner und die Dekadenz tropft an uns herunter, wir wehren uns innerlich mit allen Mitteln. Aber wir können es nicht aufhalten und irgendetwas in uns schreit: „Lass es gehen! Vergiss es und starte neu!“

Wir fangen neu an und es ist nicht leicht. Wir müssen selber denken und Lösungen finden. Technische Anforderungen, dabei hat uns die Technik dahinter nie interessiert, neue Regeln und im Kopf noch das alte, erlernte Verhalten gespeichert.

Das Aufbrechen der Bequemlichkeit ist der Moment, der alle Möglichkeiten, die schon immer vorhanden waren, nochmals vor uns ausrollt, anpreist und wir nur zugreifen müssen. Viele haben zugegriffen und die Phase des Lernens und Erkennens beginnt.

Jetzt arbeiten wir daran es wieder bequem zu haben. Und hoffentlich vergessen wir nicht, was daraus entstehen kann und machen es dieses Mal besser, schöner und netter. Ich freue mich darauf.

Neue Hühner

Vor etwas mehr als 2 Jahren zogen drei Hühner in unseren Garten. Es ist viel passiert in der Zwischenzeit. Von unseren ersten naiven Versuchen, die Hühner einzuzäunen, damit sie nicht ganzen Garten um wühlen, bis hin zu den Fangaktionen, wenn eine der jungen Hennen es doch zu den Nachbarn geschafft hat. Außer den äußerst nützlichen und leckeren Eiern, haben wir die Hühner als tägliche Begleiter kennengelernt. Sie lernen schnell, sind zutraulich (oder nur verfressen) und können in einem begrenzten Rahmen mit uns kommunizieren.

Da wir die Hühner im Alter keinesfalls schlachten werden, aber auf die Eier nicht verzichten wollen, wenn die Damen keine mehr legen, haben wir und entschieden, einen größeren Stall aufzubauen. Das ist letzte Woche passiert und gestern sind zwei neue Hühner der Rasse Sperber eingezogen. Das allerdings war von Anfang an ein recht explosives Unterfangen, da es zu filmreifen Szenen kam.

Der neue Stall ist etwas anders als der vorherige. Der erste Stall ist mit einem kleinen Auslauf, aus dem Hühner nicht heraus können. Die FamS war nun aber der Meinung, die neuen Hühner kommen direkt in den neuen Stall, dann lässt sie den Deckel auf und legt ein Netz darüber, damit sie Tageslich bekommen. Das hat nicht ganz so gut geklappt.

Ein Huhn konnte sich trotz Netz ins Freie kämpfen und rannte sogleich quer durch den Garten. Hühner sind verdammt schnell und du hast im Grunde keine Chance sie einzuholen. Frau Sperber also hetzte die 50 Meter zum Zaun und sprang aus vollem Lauf darüber, zu den Nachbarn. Hinterher die FamS und die Tochter, die natürlich nicht über den Zaun springen konnten, sondern den Umweg nehmen mussten. Ich stand lachend auf der Terrasse und konnte mich leider nicht mehr einkriegen.

Es dauerte 10 Minuten, bis sie das Huhn wieder eingefangen hatten. Zu unserem Glück rannte es in die Einfahrt der Nachbarn, die nach 20 Metern in einer Sackgasse mit Mauer und Garage endet. Das Huhn war also wieder wohlbehütet im Stall. Dann kam die kleine Tochter unserer Freunde und wollte sich die Hühner anschauen. Unbeobachtet öffnete sie die Klappe zu den Nestern und zack, das nächste Huhn rannte durch de Garten. Die Aktion wurde dann aber mittels eines leeren Kartons und eines beherzten Wurfes der FamS recht schnell abgebrochen.

Jetzt stelle sich heraus, dass die älteren Gartenbewohner, die ersten drei Hennen, nicht amüsiert über den neuen Zuzug waren. Sie wollten nicht mehr ihn ihren Stall. Was also tun? Wir haben die zwei neuen Hühner dann in den alten Stall gesetzt, der mit dem integrierten Auslauf. Da hätten sie von Anfang an auch besser hingehört.

Was dann aber trotz Umzug der Neuen passierte, konnten wir kaum glauben. Die drei Damen scharrten vollkommen apathisch durch den Garten um ihren Stall herum. Sie trauten sich nicht in die Nähe des jetzt leeren Stalls. Sogar vor uns nahmen sie Reißaus und auch mit Futter ließen sie sich nicht überzeugen. Also mussten wir warten und beobachten, wo sie sich im Garten zur Nachtruhe niederließen. Als sie dann schliefen, pflückten wir sie eine nach der anderen aus ihrem Versteck und setzten sie in den Stall.

Das war schon ein sehr aufregender Tag mit den Hühnern. Heute morgen ging es dann weiter. Die zwei Neuen saßen in ihrem Auslaufgehege, während eines der älteren Hühner davor saß und stundenlang gackerte. Vielleicht hat sie ihnen etwas über den Garten erzählt, vielleicht hat sie ihnen Angst gemacht, geantwortet haben sie jedenfalls nicht.

Jetzt sind wir gespannt, wie sich alles entwickelt, ob die Hühner sich vertragen und bald gemeinsam durch den Garten scharren.

Rosalie und die Sperber Hühner.
Rosalie und die Sperber Hühner.
Sperber Hühner im Stall zur Eingewöhnung.
Sperber Hühner im Stall

Utopia 2150 (aus 2013)

Ich möchte ihnen diese Geschichte erzählen, nein, ich muss sie ihnen erzählen. Diese Episode der Menschheit darf nicht verlorengehen. Das Jahr 2156 hatte für mich viele Überraschungen bereit. Aber auf diese eine war ich nicht gefasst. Niemand wäre auf diese Erlebnisse vorbereitet gewesen. Die Zeit wird knapp, fangen wir an!

Die Welt hatte sich in all den Jahrzehnten nach den globalen Niedergängen der Weltmärkte nie wieder richtig erholt. Noch immer versuchten die Mächtigen der Welt ihre alten Positionen neu durchzusetzen. Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen, sie hatten nichts gelernt. Aber warum auch? Die Völker waren befriedet, der Zusammenbruch und die darauf folgenden Katastrophen leisteten ganze Arbeit.

Ich selber konnte zu der Zeit nicht klagen. Als Beauftragter der RED, Regiert Europa Demokratisch, der einzig verbliebenden europäischen Regierung, reiste ich durch die Länder und suchte nach Verbündeten. So der offizielle Teil. Insgeheim sollten aber auch ehemalige Städte ausfindig gemacht werden, die sich nach dem Crash aus dem System verabschiedet hatten. Die RED hatte eine Art Wiedereingliederung für diese Bezirke aufgestellt. Die alte Macht sollte erneuert und verbessert werden.

Die Ressourcen waren damals knapper denn je, aber niemand machte sich gezielt an die Erforschung neuerer Techniken. Die früheren Strukturen und Netzwerke waren im Chaos untergegangen. Weitreichender waren aber die Folgen des Vertrauensverlustes. Nachdem die ersten Nahrungsmittel ausfielen, rotteten sich Banden zusammen und begannen ihre blutigen Feldzüge. Ganze Ortschaften wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die Menschen argwöhnten hinter jedem Gesicht einen Lootie, so nannte man die marodierenden Gangs bald.

Die Lage beruhigte sich zwar wieder, da es viele verantwortungsvolle Menschen gab, die sich den Looties entgegenstellten, aber die Angst blieb in den Köpfen der Menschen stecken. Ein rostiger Nagel aus Argwohn und Verlustangst. Das erkannte die RED im richtigen Augenblick und startete ihre Kampagne zur Zusammenführung der alten Welt. Und ich spielte dabei eine der ganz großen Rollen. Praktisch an vorderster Front.

Wir schrieben den 15.08.2156, als ich in dem kleinen Ort am ehemaligen Niederrhein ankam. Eigentlich wäre dieser Ort nicht weiter wichtig gewesen, aber die Antwort auf unsere Anfrage hin war dermaßen verstörend, dass ich beschloss, trotzdem einen kurzen Besuch dort vorzunehmen. Keine Komplikationen erwartend, fuhr ich ohne den sonst typischen Begleitschutz. So sparte ich der Regierung einige kostbare Ressourcen. Das würde sich zumindest am Jahresende wieder positiv in meiner Freundschaftsausschüttung auswirken. Negativ bemerkbar hingegen machten sich die mich begrüßenden Vertreter der Stadt. Sie waren keine Offiziellen und betonten immer wieder, sie seien Bürger und Menschen, wie alle anderen im Ort.

Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass ich bis dahin noch nichts von der Stadt zu sehen bekommen hatte. Das erste Treffen fand ein wenig außerhalb statt. Irgendetwas kam mir komisch vor, von der seltsamen Zusammenkunft ganz abgesehen. Ich sagte aber zuerst nichts und wartete einfach die weitere Entwicklung ab. Im Laufe eben dieser sollte ich zu dem Schluss kommen, dass hier alle vollkommen verrückt sind. Als Nächstes erwartete ich eine kurze Vorstellung ihrer Stadt und einen Rundgang zu den wichtigsten Punkten.

Ein junger Mann und eine junge Frau traten auf mich zu: „Wir wollen nicht unhöflich erscheinen, aber es ist nur zu ihrem Besten, wenn wir ihnen einige Erklärungen geben, bevor wir die Stadt betreten. Die letzten Jahrzehnte haben viel verändert. Deswegen sind sie hier, deswegen haben wir vieles zu erläutern.“ Ich nickte zustimmend und verzichtete um der lieben Zeit willen auf einen Kommentar. Die junge Frau sprach mit einer Überzeugung in der Stimme weiter, wie sie mir bereits bei den anderen aufgefallen war: „Sie kennen die Geschichte des großen Zusammenbruchs aus den Anfängen des Jahrtausends. Wir alle kennen sie. Die Folgen sind in der Welt draußen noch immer nicht abgestellt, die Menschen kämpfen um ihre Macht. Sie lösen sich von allem Menschlichen und begehen furchtbare Gewalttaten. Macht und Ressourcen-Hunger sind die Allianz für eine neue Schreckensherrschaft. Wir erkennen, schauen wir in die Welt außerhalb unserer Stadt, unzählige Unbelehrbare, die immerzu blind in die Fußstapfen ihrer gescheiterten Ahnen treten.“ Sie hielt inne, holte Luft und schaute mich erwartungsvoll an. Ich beschloss noch immer nichts zu sagen und ermunterte sie weiter zu machen.

Doch nun nahm der junge Mann den Faden wieder auf: „Unsere Ahnen waren anders. Sie erkannten, nachdem die halbe Stadt in Schutt und Asche lag, dass der Weg nur in den Abgrund führt. Einen tieferen Abgrund, als sich jeder Mensch vorstellen kann. Sie beschlossen, dies radikal zu ändern. Und wenn ich nun radikal sage, meine ich es auch. Der Ansatz unserer Ahnen hatte etwas schier verrücktes zur Grundlage. Ein Plan, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Geschweige denn, jemand wäre in der Lage gewesen, auch nur ansatzweise solche Gedanken zu denken. Denn, das ist die einzig wahre und zwingende Logik dahinter, sie hatten das Grundproblem in seiner ganzen Dimension verstanden. Sie machten sich an die Beseitigung vieler Probleme, um am Ende das zu erhalten, was sie heute hier vorfinden werden.«

Nun, ich hatte tatsächlich immer noch keine Ahnung, von was die Beiden hier sprachen und machte meinem Unmut auch Luft: „Schön, schön, aber warum erklären sie mir, dass ihre Ahnen das machten, was alle beschäftigte – ihre Stadt wieder aufbauen?“, fragte ich sichtlich ungeduldig. Die Frau legte sanft eine Hand auf meinen Arm, ich zuckte erschrocken zurück. Sie lächelte freundlich: „Sehen sie? Sie haben Angst vor dieser kleinen Berührung gehabt. Und nun versuchen sie zu ergründen, warum sie vor mir zurückgewichen sind. Dann haben sie die Antwort, warum unsere Ahnen eben nicht das taten, was alle taten.“ Ich dachte kurz nach und erwiderte: „Ich habe keine Angst vor ihnen, mir sind Berührungen einfach unangenehm. So verhält man sich nicht!“ Sie lächelte noch immer und ich sah plötzlich in ihren Augen, dass sie jung aussah, aber keinesfalls unerfahren sein konnte. Es brannte ein loderndes Feuer in ihren Augen. Mir wurde kurz warm.

Der junge Mann wandte sich mir wieder zu: „Ihre Reaktion ist typisch für die Menschen aus der alten Welt. Sie haben Angst. Nicht vor der Berührung selber. Viele Menschen sehnen sich geradezu nach einer intimen aber freundlichen und aufmunternden Berührung durch andere Menschen. Viel zu selten legen sich die Menschen gegenseitig die Arme auf die Schultern und freuen sich für den Anderen. Es ist aber nicht die Berührung. Es ist eine Urangst in uns, die allen Menschen zu eigen ist. Es ist die Angst vor dem Verlust. Die Berührung durch einen anderen findet in einer solch kurzen Distanz statt, dass wir durch die äußeren Einflüsse getrieben, sofort den Verlust irgendeines uns wert erscheinenden Etwas fürchten. Besitz, Status oder was immer gerade für wichtig erachtet wird. Unsere Ahnen haben dies erkannt und abgestellt.“ Ich starrte ihn an: „Sie wollen mir erzählen, ihre Ahnen hätten die Angst in allen Menschen der Stadt abgestellt. Einfach so?“ Ich empörte mich geradezu und fühlte mich ein wenig belogen.

Sie lächelten beide und erfüllten mich mit Wut. Dieses ständige Lächeln. Ich fühlte mich herabgesetzt, sie untergruben mit ihrem dummen und naiven Grinsen meine Autorität. Ich musste einschreiten. Doch halt. Ich sah genauer hin. Nicht dumm. Nicht naiv. Freundlich, aber wissend. Bestimmt, aber nicht arrogant. Innerlich schüttelte ich die Wut kurz ab und dachte nach. Warum erzürnte mich ihr Lächeln so? Ich wollte es herausfinden, wurde mir aber des Schweigens bewusst. „Ähm, nun gut. Nehmen wir an, sie haben das geschafft. Wie haben sie es hingekriegt?“

Ein älterer Mann aus der Gruppe trat zu uns und nickte meinen bisherigen Gesprächspartnern zu. „Lassen sie mich versuchen, ihnen diese Dinge ein wenig zu erläutern. Wir haben vorhin gehört, dass die Menschen sich schlimme Dinge antun, weil sie Angst haben. Das einfache Volk hatte nach dem Crash wahnsinnige Angst vor Hungersnöten, die Regierenden sahen ihre schwindende Macht und fürchteten sich vor dem Kontrollverlust. Dieses Dilemma zog sich durch alle Bereiche des Daseins. Menschen hätten ohne Nahrung, ohne ein Dach über dem Kopf, ohne notwendige Hilfsmittel, kurz gesagt, ohne die Dinge des täglichen Lebens in der Welt stehen können. Das Materielle bekam durch den Schwund der Werte eine beschleunigte Bedeutung und alles klammerte sich an die alten Muster. Wir ließen nicht los. Da kam die Idee auf, den Menschen doch alle lebensnotwendigen Dinge zur Verfügung zu stellen. Durch ein System, dass sich von selber trägt. Keine Steuern, kein Geldfluss, da Geld letztlich keinen Sinn mehr machte. Der alte Stadtrat rief seine Bauern um Hilfe an. Umliegende Höfe wurden in den Plan eingeweiht, man schmiedete einen Plan und schloss einen Pakt mit den Bauern. Die Bauern sollten ihre Produktion umstellen. Die Stadt schickte Material und Ingenieure, die Bauern ließen das wichtige Wissen zur Landwirtschaft einfließen. Der Punkt war, dass die Stadtväter von damals den Menschen die Existenzangst nehmen wollten. Denn diese hatten sie als den Urheber von über 90% aller Kriminaldelikte nach dem Crash identifiziert. Als ersten Punkt auf ihrer noch sehr jungen Agenda stand die grundlegende Versorgung mit Nahrung. Nach nur zwei Jahren hatten es die Bauern und Ingenieure geschafft. Die Stadt konnte den Bürgern alle Grundnahrungsmittel kostenfrei zur Verfügung stellen. Im Ergebnis sank die Kriminalitätsrate um 45% – das war genau der Erfolg, den man sich erhoffte! Die Urahnen gingen aber noch weiter.“

Mir schwirrte es im Kopf. Ich hatte es einwandfrei mit Verrückten zu tun. Kein Mensch mit Verstand würde einfach Nahrungsmittel in die Welt kippen, ohne einen Wert zurückzufordern. Mir war bis dahin kein einziges Modell der Marktwirtschaft bekannt, das sich mit einem solchen Irrsinn beschäftigte. „Und nun wollen sie mir sicherlich erzählen, dass die Bauern das alles ohne Gegenleistung taten?“, blaffte ich die Gruppe an. „Niemand hat in dieser Welt etwas zu verschenken, Landwirte schon mal gar nicht. Wollen sie mich für dumm verkaufen? Wie soll es denn weitergehen? Die Menschen haben nun Nahrung. Und was hatten die Ingenieure damit zu tun? Die Landwirte waren doch schon vorher in der Lage ihre Felder zu bestellen.“ Ich schaute Zustimmung heischend in die Augen der Personen um mich herum. Nichts änderte sich an ihrem Verhalten mir gegenüber. Sie lächelten mich freundlich an und ließen sich durch meine Äußerungen nicht aus der Ruhe bringen.

„Das Modell ihrer Marktwirtschaft, egal welches, hat seine Existenzberechtigung mit dem Crash verloren. Es brachte die Looties hervor, es säte Gewalt, noch mehr Angst und aus der Saat wuchsen Friedhöfe. Dunkelheit und Verlust aller Kontrolle waren die Ernten, die sie einfuhren. Damals. Was unsere Stadtväter von damals versuchten, war ein historisch einmaliger Ansatz, allen Problemen der Menschen nach und nach eine Lösung zu bieten. Angefangen mit der Nahrung, machten sich die Ingenieure daran, die Maschinen zu perfektionieren. Die Bauern waren die Ersten, die in den Genuss der neu entstehenden Technik kamen. Es gab plötzlich Höfe, die funktionierten fast automatisch. In einer Art und Weise, die sie sich nicht vorstellen können. Kein Trecker musste mehr über die Felder gelenkt, keine Kuh an die Melkmaschinen angeschlossen, kein Stall manuell gesäubert und kein Tier von Hand gefüttert werden. Einzig die Schlachtungen, die führten die Bauern selber durch. Zwar mit größtmöglicher Automation, aber das Sterben der Tiere wurde von den Landwirten begleitet. Die Ingenieure hatten wahnwitzige Ideen umgesetzt. Mit ihnen, Landwirten und Ingenieuren, erwuchs eine vollkommen neue Betrachtungsweise der Technik: »Der Nutzen, den man aus perfektionierten Maschinen ziehen konnte, wenn im Plan als Ziel geschrieben stand, dass kein Mensch mehr der Sklave einer Arbeit sein soll, die einzig der Maximierung von Gewinnen gewidmet ist.« Die Alten brachten ein Manifest auf den Weg, welches bis heute immer wieder verbessert wurde. Die Angst vor Veränderungen, die kann den Menschen auch genommen werden, wenn man sie involviert. Wenn sie Teil des Ganzen sind. Wenn sie jede Entscheidung mittragen. Von Anfang an war den Vätern klar, am Ende würde niemand mehr einer Arbeit nachgehen, die von Dividenden, Aktien und Portfolios bestimmt wurde. Es würde einfach keine Notwendigkeit mehr bestehen. Wieder ein wahnwitziger Gedanke, aber auch dieser wurde umgesetzt. Zwar erst später, aber es klappte.“

Ich atmete schwer. Diese Irren hier versuchten mir nun aufzutischen, dass sie kostenlos Nahrungsmittel ausgaben und niemand mehr die Notwendigkeit hatte zu arbeiten? Ich schüttelte energisch den Kopf. „Liebe Leute,“ versuchte ich es im Guten, „wo soll das denn hinführen? Wie finanziert sich so etwas denn? Wer kommt dafür auf?“ Ich ließ Maschinengewehrsalven von meinen Fragen auf die Gruppe los. Sie ertrugen es geduldig und schwankten nicht eine Sekunde.

Die junge Frau blickte mich an. Lächelnd. Mir fiel plötzlich auf, dass von dieser Gruppe überhaupt keine Aggression ausging. Sie waren ruhig, in sich vollkommen sicher und, fast weigerte sich der Gedanke gedacht zu werden, ohne jede Angst. Immerhin konnte ich über ihr Schicksal entscheiden, als Gesandter der RED. Doch sie erschienen so unbekümmert, ja gradezu frei zu sein, dass nichts auf der Welt ihnen etwas anhaben konnte.

„Die Perfektion der Maschine. Nicht in ihrer Funktion, sondern in ihrem Nutzen für den Menschen. Wenn sie dies erreicht haben, können sie anfangen und all das umsetzen. Wir, das heißt unsere Ahnen, schlossen anfänglich den Pakt mit Landwirten und Ingenieuren. Danach gingen sie auf die Bevölkerung zu. Sie gaben ihnen Nahrung, die Grundversorgung. Man ließ nach und nach von allem Materiellen los. Alle Menschen in der Stadt sollten die gleichen Lebensbedingungen vorfinden. Gleiche Chancen für alle. Dies konnte nur erreicht werden, wenn die Menschen nicht jeden Tag die meiste Zeit in Fabriken oder Büros zubrachten. Die Befreiung des Arbeiters vom Müssen. Die Befreiung vom Mietzins. Die Befreiung von Steuern. Die grundlegende Änderung eines kaputten Bildungssystems. Lassen sie mich ihnen versichern, dass all das, und vieles mehr, unseren Stadtvätern damals eingefallen ist, sie haben es niedergeschrieben und die nachfolgenden Generationen haben weiter gemacht. Die Menschen hatten erkannt, dass dies der richtige Weg war. Nach den Grundbedürfnissen wurde nicht halt gemacht. Die Menschen trieben mit ständigen Verbesserungen die Entwicklung weiter voran. Unsere Versorgungstechnik in der Stadt ist technisch auf dem höchsten Stand, kann aber, weil sie dem Menschen nutzen soll, von praktisch jedem Bürger der Stadt bedient werden. Damit ist sichergestellt, dass Defekte oder notwendige Inspektionen nicht nur von Spezialisten durchgeführt werden können. Wir haben unser System so aufgebaut, dass von Kindesbeinen an die Funktionsweise der Gesellschaft, der Technik und der weiteren Entwicklung verstanden wird. Egal welchen Weg ein junger Mensch gehen möchte, die Basis ist immer abgedeckt. Ob sie nun Biologe, Architekt oder Physiker werden wollen, es steht alles offen. Mit dem offenen System haben wir es in den letzten 8 Jahrzehnten geschafft, dass jedes Kind am Ende zu einem Studium greift.“

Sie schauten mich an. Ich grinste irr zurück. Verstand? Wo war mein Verstand geblieben? Warum hörte ich mir diesen Mist an? Ja, es hörte sich verheißungsvoll an. Sehnsüchte wurden in mir geweckt, die ich vorher nicht kannte. Ich sah mich im Auftrag der RED mit Menschen reden, denen ich Versprechungen machte, von denen klar war, sie würden niemals eingehalten werden können. Und hier traf ich auf das vollkommene Gegenteil. Bei all dem wurde mir bewusst, dass nicht einmal das Wort Religion gefallen war. Dieser Aspekt machte mich neugierig. Da stand scheinbar ein Heer von Technokraten vor mir, aber der Glaube an Götter würde sie Lüge strafen. Ich fragte offen und direkt nach. Götter, gab es diese hier noch?

„Die alten Religionen“, erklärte der junge Mann zu dem Thema, „sind eben alt. Sie waren eng mit dem Wertesystem verwoben. Als dieses zusammenbrach, verloren die hungernden Propheten mehr als den Glauben in ihre Götter. Während die Menschen bibbernd und hungernd in den Kirchen saßen, stiegen die Büttel der hohen Geister in die Wohnungen ein und bemächtigten sich der letzten Habe. Nein, auf unserem Weg steht die Religion nicht mehr zur Debatte. Sie ist über. Aber nicht aus irgendeinem Eigennutz der Menschen, sondern, weil man sich aus Angst an die unsichtbaren Wesen wandte. Mit dem Sieg über die Angst der Menschen, hatte sich das Thema Religion auch erledigt. Auch die Angst vor dem Sterben ist nicht mehr vorhanden. Ein Mensch, der ein Leben ohne Angst führen konnte, der viel Zeit mit Muße und Verwirklichung verbrachte, hat am Ende seines Lebens nichts zu fürchten. Aus diesem Grund haben wir keine Altersheime oder große Krankenhäuser, wie sie früher üblich waren. Wir geleiten unsere Alten ehrenvoll hinüber. Lebensverlängernde Maßnahmen gibt es nicht bei uns. Es gibt aber auch kaum tödliche Krankheiten, die einen Menschen in der Blüte seiner Jahre hinwegraffen. Und wenn jemand gehen möchte, weil er das Gefühl hat, er hat alles getan und alles erledigt, so soll er gehen. Wir stellen dies nicht an den moralischen Pranger. Früher sprach man von Verantwortung der Menschen, die sie tragen müssten. Unsere Gesellschaft ist stark und warum die Schultern einzelner belasten, wenn das Gewicht für alle besser verteilt werden kann? Die Menschen kümmern sich um Menschen. Und dies tun sie, weil sie dafür die Lebenszeit zurückerhalten haben und weil sie nichts fürchten müssen. Unsere Einschnitte insgesamt sind so tiefgreifend, dass wir noch lange nicht am Ende der Entwicklung angekommen sind. Nein, vielmehr wird es so sein, dass sich die Gesellschaft immer verändern wird, sie muss es einfach. Um bestehen zu können. So bringen wir nach und nach alle Veränderungen gemeinsam ein. Die Gesellschaft bestimmt über die Entwicklung, nicht ein Markt, die Technik oder imaginäre Gewinnspannen.“

Später in der Stadt sah ich es. Sie hatten nicht gelogen. Die Technik war zum maximalen Nutzen für den Menschen herangereift. Aber nur, weil niemand einen eigennützigen Gewinn aus dem Unternehmen „Utopia“ ziehen wollte. Weil man die Menschen als Menschen verstand. Man nahm sich der Ängste an, beseitigte diese, stellte die Versorgung mit allen möglichen Dingen sicher und gab den Menschen die Muße des Lebens zurück. Die Vernetzung über alle Wohnbereiche ermöglichte die Kommunikation der Einwohner bei wichtigen Entscheidungen. Es gab keine Stadtväter mehr, Verbesserungen ergaben sich immer aus der Gemeinschaft heraus. Jeder Schulabsolvent hatte Stimmrecht, jeder konnte Vorschläge machen, und alle gemeinsam stimmten sie über die anzugehenden Projekte ab.

Ich habe dies so niedergeschrieben, damit es nicht vergessen wird. Denn außerhalb unserer Stadt formieren sich die Märkte neu. Immobilien, Ressourcen und Edelmetalle sind wieder hoch im Kurs. Sie wissen noch nicht von uns. Ich blieb in der Stadt und legte für meine Auftraggeber eine falsche Spur. Seitdem lebe ich frei von Ängsten. Wir haben hier auch keine Angst vor den Märkten draußen, es sind die Ängste der Menschen, die uns verunsichern. Es erscheint fraglich, ob wir Wenigen es schaffen können, sie dahin zu bringen, wo wir nun sind. In ein freies Leben – befreit von Sachzwängen und materiellen Besitzansprüchen. Wir gehen davon aus, dass unsere Technik für andere Zwecke eingesetzt werden wird. Aber noch hält unser Schutzschirm sie ab, noch können sie uns nicht sehen.