Sichtweise

Puh, da ist mir doch tatsächlich die Brille kaputt gegangen. An einem der Bügel ist der obere Rahmen gebrochen und das Glas raus gefallen. Ist zum Glück heile geblieben. Es ist meine erste Brille und sie ist auch schon einige Jahre alt. Vielleicht haben die Augen mit geholfen, damit ich beim Optiker endlich wieder einen Sehtest mache. Jedenfalls laufe ich seit gestern Nachmittag ohne Brille durch die Wohnung.

Dabei fällt mir der Gewöhnungseffekt sehr deutlich auf. Bezüglich Sichtweite und Schärfe fehlt mir die Brille eigentlich gar nicht so wirklich. Also, klar, ich trage die ja nicht zum Spaß oder aus modischen Gründen, dennoch ist das etwas schlechtere Sehen nicht so dramatisch. Aber meiner Nase und meinen Ohren fehlt ganz offensichtlich der Druck des Gestells. Ganz oft laufe ich durch die Wohnung und denke: “Ach, schon wieder die Brille vergessen!”, erinnere mich dann aber, dass ich sie nicht vergessen habe, sondern, dass sie kaputt auf dem Schreibtisch liegt.

Ich glaube, so ähnlich funktioniert das auch mit alten Ansichten, die sich zwischenzeitlich als falsch herausgestellt haben. Man weiß, sie sind falsch, aber zum geeigneten Moment verfällt man ihnen wieder. Dann erinnert man sich und gelobt Besserung. Bis zur nächsten Situation. Mit Verhaltensweisen ist das sicherlich auch so. Es ist schwer, die Mauer aus Gewohnheit und Bequemlichkeit zu durchbrechen, um dauerhaft eine andere Sicht auf die Dinge einzunehmen.

Na ja, eine kaputte Brille ist schon mal ein Anfang. Und wer weiß, vielleicht wird der Blick nächste Woche noch viel schärfer gestellt.

Streitgespräche

Auf Seite 5 der aktuellen Print-Ausgabe von „Die Zeit“ geht es in einem kurzen Artikel über die Streitkultur im Netz. Es wird über den Rückzug zweier Politikerinnen aus Facebook berichtet. Die beiden sind mit dem Medium Internet „groß“ geworden, umso mehr fragt sich der Autor, wie wir denn noch im Netz diskutieren und streiten können. Die unfassbare Anzahl von Hassnachrichten und Morddrohungen hat sie die Entscheidung treffen lassen.

Ich bin mir unsicher, ob es überhaupt eine Streitkultur in einem mehr oder weniger anonymen Umfeld geben kann. Der Rand wird laut, wenn er sich geschützt und unerkannt äußern kann. Selbst die Partei, die sich genau so aufbauen wollte, ist damals an der internen Streitkultur mehr oder weniger zerbrochen.

Weiterhin halte ich es für kritisch seinen Standpunkt innerhalb von Internet-Plattformen zu reflektieren. Die Gefahr, dass man sich in einer noch intensiveren, fokussierteren Filterblase als in seinem Familien- und Freundeskreis befindet, ist groß. Wenn eine Meinung nicht genehm ist, kann man sich im Schutze der Anonymität entfreunden, entfolgen oder einfach muten.

Diskutiere ich mit meinen Verwandten und Freunden, kann ich mich der Meinung der Anderen nicht einfach entziehen. Und wir haben hier schon viele, viele Streitgespräche geführt. Die Meinungen innerhalb des Freundeskreises sind nie gleich. So kenne ich das zumindest. Deswegen gibt es für mich keinerlei Grund, auch nur ansatzweise im Internet über die großen Fragen unseres Lebens, unserer Gesellschaft zu streiten, zu diskutieren. Frühere Versuche endeten alle ohne weitere Erkenntnisse.

Der Autor des Artikels in „Die Zeit“ fragt auch, wo wir uns denn noch streiten können. Na, ganz einfach. Im direkten Umfeld mit der Familie, mit den Freunden. Und mit einer durch weiteres Wissen ausgebauten und gefestigten Meinung, kann man Stück für Stück weitere Menschen abholen (oder mit ihnen streiten). Aber wahrscheinlich nicht auf Facebook, Twitter oder Instagram.