Blender

Die Luft draußen war noch schön warm an diesem Sommerabend. Die Sterne funkelten in ihrer vollen Pracht aus den unendlichen Weiten des Weltraums auf unsere kleine Welt herab. Eigentlich genau richtig, um mit Freunden an einem Feuer zu sitzen und den Alltag einfach Alltag sein zu lassen. Aber er nahm das alles nicht wahr. In der Stammkneipe am Tresen funkelten nur die Pfützen aus verschüttetem Bier im kalten Kunstlicht.

„Mach mir noch ein Bier und gib mir eine Packung Marlboro auf den Deckel“, wies er den Wirt an. Gelangweilt schaute er dem Wirt beim Zapfen zu und fragte sich, wenn denn endlich die Kippen kommen würden. Neben ihm standen auf einer Tortenplatte unter einer Glaskuppel die selbst gemachten Frikadellen der Wirtin. Sie werkelte meistens in der Küche herum und brachte dann den Nachschub für die trinkenden Gäste.

Essen durften sie hier nicht servieren. Er glaubte mal gehört zu haben, dass das von irgendeinem Amt untersagt wurde, weil der Gang aus der Küche direkt an den Toiletten vorbeiführte. Es gab keinen anderen Weg. Die Türen der Toiletten ließ man auch besser geschlossen. Die Pissrinne stank penetrant, egal, wie viele Duftkugeln darin lagen. Ihm war das egal. Er trank heute einfach gelangweilt sein Bier und hörte den alten Männern bei ihren Unterhaltungen zu. Je mehr Export oder Stößchen sie intus hatten, desto abstruser wurden die Themen und die Argumente.

Er kannte das. Immer dasselbe Schema. Etwas in den Nachrichten, im Radio oder in der Zeitung polarisierte und während sie sich betranken, übertrumpften sie sich mit Unwahrheiten und angeblichen Erlebnissen aus ihrem Leben zum Thema. Unglaublich, wie dumm sie waren. Wenn es nichts zu erzählen mehr gab, kam unweigerlich einer auf die Idee, Schocken zu spielen. Das war dieses Spiel mit den drei Würfeln, bei dem einer vorlegte und alle anderen versuchten bessere Ergebnisse zu erzielen. Manchmal spielte er mit. Meistens verlor er und zahlte je nach Teilnehmer viel Lehrgeld.

An diesem Abend schienen die Gespräche nicht aufzuhören. Er hatte schon den Ursprung vergessen und aus den Fetzen, die zu ihm durchdrangen, konnte er nicht ausmachen, worum es ging. Egal.
„Adolf, noch ein Bier!“
Der Wirt schaute kurz auf, fast sah es so aus, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann aber doch und zapfte das Bier. Hinter ihm schwang die Tür auf und merklich sauerstoffreiche Luft strömte von außen herein. Im Spiegel, der unweigerlich in die rustikale Eichenbar hinter dem Tresen eingebaut war, erkannte er ein Pärchen. Sie schauten sich kurz um und setzten sich an einen der vielen freien Tische.

Er bestellte eine Cola, sie Rotkäppchen Sekt. Innerlich schüttelte es ihn und schnell nahm er einen Schluck von seinem Bier, um den imaginären Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Komische Leute, dachte er. Na ja, muss es auch geben. Die beiden unterhielten sich angeregt und schienen mit sich selbst beschäftigt zu sein. Es verging ungefähr eine Stunde, dann stand er auf und verließ grußlos die Kneipe. Sie blieb allein zurück.

Er hatte vermutlich vergessen, dass er sie weiter im Spiegel beobachtete, denn später fiel es ihr auf und sie lächelte ihm aufmunternd zu. Zuerst dachte er, er hätte sich getäuscht, doch sie lächelte weiter und bedeutete ihm, zu ihr an den Tisch zu kommen. Einigermaßen mutig vom Alkohol stand er vorsichtig auf und trug sein Bier mit Bierdeckel und die Schachtel Marlboro zu dem Mädchen an den Tisch. Der Wirt schaute kopfschüttelnd zu.

Er wusste nicht, wie er das Gespräch anfangen sollte und sah sich schon peinlich schweigend dort sitzen. Doch sie lachte und plapperte fröhlich drauflos. Wie sie hieß, wie alt sie war und woher sie ursprünglich kam. Conny, 28 Jahre, in Berlin geboren, jetzt aber mit Herz und Seele hier im Ruhrpott zu Hause. Als sie eine kurze Pause einlegte, ergriff er die Gelegenheit und gab seine Informationen für sie preis. Mattes, 23 Jahre, hier geboren und aufgewachsen. Sie ergriff mit warmen Fingern seine rechte Hand, die neben dem Bierglas auf dem Tisch lag und schwärmte von seinem wunderschönen Namen. Der sei hier zwar nicht selten, aber sie mochte ihn unheimlich gerne. Wenn sie mal Kinder hat, ein Junge würde auch Mattes heißen sollen.

So saßen sie dort und erzählten. Er dachte gar nicht mehr an den jungen Mann, der mit ihr gekommen war, aber später einfach die Kneipe verlassen hatte. Offensichtlich kam er nicht zurück. Nach ungefähr zwei weiteren Stunden und einigen Bieren und Rotkäppchen, war es Zeit zu gehen. Adolf, der Wirt, hatte die letzte Runde eingeläutet. Er kam zum Kassieren sogar an den Tisch.
„Mattes“, fing Conny säuselnd an, „der Ralf, der vorhin mit mir hier war, hat vergessen, mir mein Geld zu geben. Kannst du mir vielleicht aushelfen?“
Natürlich konnte Mattes und zückte unter dem ungläubigen Blick des Wirtes seine Geldbörse. Gekonnt verzog er keine Miene, als der Preis genannt wurde. Er hatte da eine vage Vermutung, was der Abend noch bringen würde. Wie auf Kommando fragte Conny dann draußen vor der Tür, ob er noch mit zu ihr kommen wolle.

Natürlich wollte Mattes. Sie hakte sich bei ihm ein, als wenn es das Normalste auf der Welt wäre. Es waren tatsächlich nur ein einige hundert Meter bis zu ihrer Wohnung. Insgeheim fragte er sich schon, warum sie ihm vorher nie aufgefallen war. So groß war der Ort hier nicht und die Häuser lagen beinahe auf Sichtweite beieinander. Egal. Er freute sich, sie jetzt zu kennen und bereitete sich innerlich auf den weiteren Verlauf vor.

Sie wohnte ganz oben, im vierten Stock, ohne Fahrstuhl. An der Tür legte sie ihm einen Finger auf den Mund, machte: „Pssst! Ganz leise jetzt!“. Er dachte an Eltern, bei denen sie noch wohnte. In der Wohnung angekommen, eilte sie sofort zu der Zimmertür geradeaus und schaute hinein. Dann zog sie die Tür ganz langsam zu. Durch das Muster des Türglases sah er leicht gedimmtes Licht scheinen. Sie zog ihn in die Küche und machte sich sofort am Kühlschrank zu schaffen.

„Ich habe leider kein Bier da. Aber du kannst Cola-Rum haben, wenn du magst.“ Er nickte wortlos und etwas fühlte sich komisch an. Wer oder was war da in dem Zimmer, zu dem sie die Tür geschlossen hatte? Und gerade, als sein Gehirn einigermaßen funktionierte und ihm Ralf einfiel, hörte er auch schon eine männliche Stimme rufen: „Conny? Bist du das?“
Sie flitzte in das Zimmer und sprach nun ganz offensichtlich mit Ralf. „Ach, ich wollte dich schlafen lassen. Tut mir leid, waren wir zu laut?“
„Zu laut? Wir? Wer ist denn noch da?“
„Ach ja, du kennst ihn ja nicht.“, dann rief sie: „Mattes, komm doch ins Wohnzimmer!“

Das Unwohlsein wurde stärker, aber er nahm sein Glas und ging zu dem Pärchen ins Wohnzimmer. Er grüßte freundlich und stellte sich noch einmal extra bei Ralf vor. Er hoffte, dass der nicht auf dumme Gedanken kommen und es gleich eine Eifersuchtsszene geben würde. Aber als Ralf mit ihm sprach, bemerkte er, dass dieser eigentümlich lallte und die Augen vollkommen glasig waren.

Hatte der etwa hier schon Rum-Cola getrunken und war dann eingeschlafen? Mattes fragte lieber nicht. Er fühlte sich vollkommen fehl am Platz. Ralf kniete sich vor die Musikanlage und legte eine Platte auf. Pink Floyd. Die mochte er jetzt nicht so, seine Musik war der Metal, wie Slayer oder Metallica. Sie unterhielten sich über die Musik. Er sagte nichts gegen Pink Floyd. Auch als David Bowie aufgelegt wurde, lobte er den guten Geschmack von Ralf. Innerlich schüttelte er sich. Zudem vermied er weiteres dazu zu sagen, sondern überließ Ralf das Reden. Dieser hatte die Situation vollkommen eingenommen. Conny saß hinter ihnen auf der Couch und sagte kein Wort.

Während sie sich unterhielten, fiel ihm auf, dass Ralf ein paar Zähne im Mund fehlten. Er fühlte einen leichten Ekel in sich aufsteigen, bei der Vorstellung, dass dieser Mund sich auf den von Conny legte. Er wollte sie gar nicht mehr küssen. Als er an sie dachte und Ralf gerade eine andere Platte aus dem Schrank kramte, drehte er sich zu ihr um. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und saß mit nackten Füßen auf der Couch. In einer Hand hatte sie eine Spritze, die sie sich langsam in die Fußsohle stach und dann mit wilden, gierigen Augen die Flüssigkeit in den Fuß pumpte.

Vollkommen erstarrt schaute er dabei zu. Das hatte er noch nie gesehen. Ralf stieß ihn an: „Alter, was ist? Passt dir was nicht?“
„Ich, ähm. Also, ich weiß nicht. Was macht sie?“, stammelte er heiser.
„Ach du liebe Güte!“, lallte Ralf und versank in lautes Lachen. „Hast du noch nie gesehen, wie sich jemand Heroin spritzt? Ach nein, der feine Herr kennt nur sein Bier aus dem Fass!“ Der Ton war nun anders. Leicht aggressiv, kam es Mattes vor. Conny sank nach hinten auf das große Kissen der Couch und schloss die Augen. Sie wirkte zufrieden. Er fühlte sich unangenehm, ja, geradezu betrogen. Er stand auf und bedeutet, dass er jetzt gehen müsse.
„Ja, klar. Geh du nur. Du Blender! Meinst du vielleicht, ich habe nicht gemerkt, dass du von Floyd und Bowie absolut keine Ahnung hast? Du kennst nichts! Das hier ist unsere Welt und wir sind glücklich darin! Geh, los, geh nur! Und komm nie wieder!“

Als er unten vor der Tür im Freien stand, atmete er auf. So eine beklemmende Atmosphäre hatte er noch nie verspürt. Heroin! Mein Gott! Ihm war klar, dass er, nachdem er das jetzt erlebt hatte, einfach beim Bier bleiben würde. Unweigerlich musste er an die fehlenden Zähne und die teilweise schwarzen Stummel in Ralfs Mund denken. Ekelhaft. Dann fiel ihm ein, dass er die Kneipenrechnung, für die beiden bezahlt hatte. Er pfiff auf das Geld. Sollten sie es behalten.

Später in der Woche unterhielt er sich in der Kneipe über Conny und Ralf. Sie waren bei anderen bekannt. Ralfs Mund sah so zerstört aus, weil er sich die Spritzen ins Zahnfleisch setzte. Conny unter die Füße. Angeblich deswegen, weil man die Einstichstellen nicht sehen konnte, anders als in den Armbeugen.

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