Nichts gespürt

Die letzte Brücke war eingerissen, es gab keinen Weg zurück. Das war das, was er wollte, er hatte es so geplant und angefangen den Plan umzusetzen. Ab einem Zeitpunkt, er wusste nicht mehr genau zu sagen wann, konnte er es nicht mehr aufhalten. „Die Maschine hat 120°C und rennt“, würde man als Maschinist gesagt haben. Aber die Maschinisten hatte da noch gar keine Ahnung, dass er überhaupt einen Plan besaß.

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Aus dem Leben

Wenn du in jungen Jahren die Stadt wechseln musst, all deine Freunde hinter dir lässt, weil deine Eltern das so bestimmt haben, bist du nicht das glücklichste Kind. Auch wenn es von Vorort zu Vorort geht, die Umgebung ähnlich ist, aber die Wohnung eben ganz anders, das Haus voll mit anderen, fremden Menschen, lauten Menschen, dann trägt das nicht weiter zur Umgewöhnung bei.

Tagsüber die fremden Kinder in der Schule, nachmittags mit der Mutter allein, weil Vater in anderen Ländern das Geld verdient. Hinten aus den Fenstern blickst du auf unzählige andere Fenster, mit Gardinen, ohne Gardinen, geputzt oder dreckig, mit Gesichtern, die auch hinaus schauen, ohne Gesichter und manchmal auch, so denkst du, weil sie immer leer sind, die Scheiben und Rahmen, manchmal auch ohne Menschen in den Räumen dahinter.

Schaust du vorne raus, siehst du die Frittenbude, deren Fettgestank die Straße beherrscht, wenn im Sommer nur ein leichter, heißer, abgestandener Wind geht, morgens, wenn das Fett abgetragen von der Nacht auf den Steinen liegt, dreht sich leise die Lüftung des Kühlhauses des kleinen Ladens an der Ecke und drückt den Geruch rohen Fleisches in die Straße.

Nein, du bist nicht sonderlich glücklich mit dem Ortswechsel. Aber es interessiert niemanden. Jammer nicht, heißt es, such dir neue Freunde, bist doch sonst nicht so verklemmt.

Freunde suchen, in einem Umfeld, das du bisher so nicht kanntest. Rechts unten wohnen Alkoholiker mit drei Kindern, ein Junge in deinem Alter. Hinterhältig und gemein ist er. Aber auch ohne großen Freundeskreis. Man findet sich halt. Links im Haus nebenan, diese Familie mit sechs Kindern, von unterschiedlichen Männern, niemand geht arbeiten. Halt dich davon fern, heißt es eindringlich. Doch genau dort findest du deinen besten Freund, zwar erst viel später, aber er ist das, was einen Freund ausmacht. Die Erkenntnis kommt dir leider beinahe zu spät, weil ihr dann schon kurz davor seid volljährig zu werden und sich eure Wege bald trennen werden. Bis dahin ist es aber ein langer Weg, den du erst einmal mit den falschen Leuten antrittst.

Es gibt nicht viel, was Kinder zwischen den Häuserschluchten machen können. Ein verrottender Abenteuerspielplatz wird durch Garagen ersetzt, der Spielplatz ist bald von Müttern mit Kleinkindern besetzt, die euch nicht haben wollen. Ihr seid zu grob, zu laut und zu unflätig. Vielleicht haben sie recht. Vermutlich stimmt es.

Deswegen spielt ihr auf den Garagendächern, mit Fußbällen zwischen den Garagen, dass es bis nach Warschau hallt. Der Sportplatz ist unter der Woche geschlossen und wer sich darauf erwischen lässt, ist dran. Der Platzwart ist ein so furchteinflößender Mensch, dass sich niemand in dem kleinen Ort, wo jeder jeden kennt, auch nur daran denkt, den Platz ohne Erlaubnis zu betreten. Wir Siedlungskinder haben eh keine Erlaubnis zu erwarten, außer die Eltern bezahlen den Beitrag, dann darfst du zu Trainingszeiten erscheinen und dich vom Trainer anschreien lassen.

Das Gewummere der Bälle an den Blechtoren der Garagen ruft nach nur kurzer Zeit den Verwalter auf den Plan. Er wohnt nur ein oder zwei Eingänge entfernt in seiner Verwalterwohnung. Sein Sohn ist schon erwachsen, aber nicht ganz klar im Kopf, wie uns scheint. Er kommt uns sonderbar vor. Sein Vater auch. Ein Choleriker wie er im Buche steht. Schreit los, noch bevor sich die Haustür hinter ihm geschlossen hat. Wäre er intelligenter vorgegangen, er hätte uns übermütigen Schnösel alsbald am Schlafittchen gehabt. So aber entziehen wir uns ihm unter lauten Gebrüll unsererseits, was sein Gezeter nur noch anheizt und bald ist das Gewummere der Bälle an dem Blech der Garagentore nur ein leises, zartes Harfenspiel. So geht es den Sommer über. Wir legen es darauf an, dass er wild brüllend aus seiner Wohnung gerannt kommt und wir ziehen uns, ihn beständig weiter provozierend, in sichere Entfernung zurück.

Ich muss heute gestehen, dass wir uns in dieses Spiel hineinsteigerten. Eines Tages, als wir ihn wieder aus der Wohnung geholt hatten, stiegen wir auf die Garagen und setzten dort unsere Schimpftiraden fort, während er unten zwischen den Garagen mit seinem steifen Bein, krebsrot im Gesicht, herum humpelte und uns drohte. Wir lachten, bis die Tränen aus unseren Augen rannen. Irgendwann gab er auf, er konnte ja mit seinem Bein nicht auf die Garagen klettern, selbst wenn, wir wären schneller weg, als der Pfarrer Amen sagen kann.

Also stiegen wir, uns in Sicherheit wiegend, von den so oder so verbotenen Garagendächern herab. Plötzlich fanden wir uns zu zweit von starken Armen geschnappt und konnten uns nicht winden, nicht entkommen. Sein Sohn. Angst schoss uns in den Magen und die Übelkeit siedete in der Säure. Was würde er mit uns machen? Wir hielten ihn ja nicht für ganz dicht. Würde er uns prügeln? Vorerst hielt er uns nur fest; wie sich später herausstellte, war er sich der Wirkung seiner Kraft durchaus bewusst.

Er steckte seinen Kopf zwischen unsere beiden und sprach ruhig in jeweils eines unserer Ohren: „Lasst doch meinen Papa in Frieden. Er ist es nicht gewohnt mit Kindern umzugehen. Deswegen muss er dann immer so brüllen. Früher hat das Mama ja gemacht, sich um mich und meine Schwester gekümmert. Dann ist sie gestorben und er war alleine. Ganz plötzlich musste er sich um uns Kinder kümmern. Das war nicht leicht. Ich weiß nicht, ob ihr euch das schon vorstellen könnt, aber es ist nicht leicht für einen Mann, der sein Leben nur in der Arbeit war, plötzlich mit zwei Kindern alleine zu sein. Die Verantwortung, der Verlust der Arbeit. Ich bitte euch, lasst ihm seine Ruhe.“

Wie es meinem Freund dabei erging weiß ich nicht, aber ich sah mich selber, nach dem Umzug in diese Gegend, mit all den unbekannten Dingen, ohne Freunde, alleine zwischen den Häusern anfänglich und erinnerte mich, wie schwer es war hier klar zu kommen. Wie schwer es im Grunde immer noch war und wir deswegen einen alten Mann ärgern mussten, bis sein Sohn, der gar nicht blöde sondern extrem freundlich und gesittet war, uns ins Gewissen reden musste. Irgendwo in der Ferne machte es ein Geräusch, als wenn ein rostiges Zahnrad in ein anderes einrastet und unsere Charakterstufe wurde um eins erhöht. Von da an wurde der alte Mann unbeachtet gelassen und Mädchen rückten in den Fokus. Aber das ist eine andere Geschichte.

Streitgespräche

Auf Seite 5 der aktuellen Print-Ausgabe von „Die Zeit“ geht es in einem kurzen Artikel über die Streitkultur im Netz. Es wird über den Rückzug zweier Politikerinnen aus Facebook berichtet. Die beiden sind mit dem Medium Internet „groß“ geworden, umso mehr fragt sich der Autor, wie wir denn noch im Netz diskutieren und streiten können. Die unfassbare Anzahl von Hassnachrichten und Morddrohungen hat sie die Entscheidung treffen lassen.

Ich bin mir unsicher, ob es überhaupt eine Streitkultur in einem mehr oder weniger anonymen Umfeld geben kann. Der Rand wird laut, wenn er sich geschützt und unerkannt äußern kann. Selbst die Partei, die sich genau so aufbauen wollte, ist damals an der internen Streitkultur mehr oder weniger zerbrochen.

Weiterhin halte ich es für kritisch seinen Standpunkt innerhalb von Internet-Plattformen zu reflektieren. Die Gefahr, dass man sich in einer noch intensiveren, fokussierteren Filterblase als in seinem Familien- und Freundeskreis befindet, ist groß. Wenn eine Meinung nicht genehm ist, kann man sich im Schutze der Anonymität entfreunden, entfolgen oder einfach muten.

Diskutiere ich mit meinen Verwandten und Freunden, kann ich mich der Meinung der Anderen nicht einfach entziehen. Und wir haben hier schon viele, viele Streitgespräche geführt. Die Meinungen innerhalb des Freundeskreises sind nie gleich. So kenne ich das zumindest. Deswegen gibt es für mich keinerlei Grund, auch nur ansatzweise im Internet über die großen Fragen unseres Lebens, unserer Gesellschaft zu streiten, zu diskutieren. Frühere Versuche endeten alle ohne weitere Erkenntnisse.

Der Autor des Artikels in „Die Zeit“ fragt auch, wo wir uns denn noch streiten können. Na, ganz einfach. Im direkten Umfeld mit der Familie, mit den Freunden. Und mit einer durch weiteres Wissen ausgebauten und gefestigten Meinung, kann man Stück für Stück weitere Menschen abholen (oder mit ihnen streiten). Aber wahrscheinlich nicht auf Facebook, Twitter oder Instagram.