Ein privilegierter Rückblick

Wenn mich jemand fragt woher ich komme, sage ich, dass ich im Ruhrpott geboren wurde und auch dort aufgewachsen bin. Rein geografisch ist das absolut richtig, aber der Definition „Ruhrpott“ nach, nur die halbe Wahrheit. Das sehe ich so, weil ich auch im Ruhrpott nie in einer großen Stadt wohnte. Unsere Familie lebte immer in Vororten, die zumeist recht grün waren. Heute lebe ich am Niederrhein im noch grüneren Umfeld.

Ich hatte Zeit meines Lebens Menschen aus anderen Ländern in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Viele meiner Freunde sind nicht hier geboren, oder ihr familiärer Hintergrund ist aus einem anderen Kulturkreis. Es ist fast egal wo du im Ruhrpott wohnst, er ist an vielen Stellen einfach ein farbenfroher Schmelztiegel.

Anders als meine Großeltern habe ich keine Berührungsängste. Nicht früher, nicht heute. In meinem kindlichen Gemüt habe ich die Warnungen vor diesen und jenen Leuten einfach nicht wahrgenommen. Dachte ich viele Jahre. Ich hielt mich immer für offen und als jemand, der keinen Anstoß an der Andersartigkeit unterschiedlichen Kulturen nahm. Irgendwann stellte ich aber fest, dass mein Verhalten in bestimmten Situationen nicht zu meiner (gedachten) Überzeugung passte.

Als Beispiel will ich nur einen Sachverhalt anführen, der exemplarisch für viele andere Situationen stehen soll, in denen ich mich plötzlich voller Scham betrachten musste. Ich parkte mit meinem Auto im Sommer in einer Stadt und wartete auf jemanden. Es war warm und die Fenster am Auto waren geöffnet. Eine Klimaanlage hatten meine Autos zu der Zeit noch nicht. Ich konnte den Bürgersteig gut überblicken und sah am Ende der Häuserfront eine Gruppe junger Leute um die Ecke kommen. Sie alle hatten dieses südländische Aussehen, von dem wir viel zu oft in den Nachrichten lesen und hören konnten. Automatisch schloss ich die Fenster und kontrollierte, ob die Türen abgeschlossen waren.

Anfänglich habe ich mir eingeredet, dass ich das auch bei einer anderen Gruppe gemacht hätte. Das ist aber falsch. Ich hätte es nicht getan. Diese Erkenntnis war ein Schlag ins Gesicht. Es gibt viele solcher Situationen, in denen ich mich so verhalten habe. Danach fing ich an zu überlegen, warum das so ist. Es ist im Grunde so einfach wie schauderhaft. In meiner Erinnerung sind viele Situationen, in denen meine Großeltern stur ihre im Nationalsozialismus gelernte Sicht auf „fremde Menschen“ wiedergaben.

Als Kind war ich einfach zu abgelenkt mit Abenteuern und Spielen, um das wirklich wahrzunehmen. Man kann sagen, ich habe diese schlimmen Aussagen und Wörter weg-gelacht. Doch sie machen etwas mit dir. Schleichend setzen sich diese Dinge fest und steuern irgendwann dein Verhalten. Erst bist du Kind, wächst in Mitten von anderen Kulturen auf, aber du benutzt auf der anderen Seite auch bestimmte Wörter, mit denen diese Kulturen, diese Menschen, abgewertet, diskriminiert, beleidigt werden. Ganz unbedarft, weil das alle machen. Es setzt sich fest in dir.

Als Erwachsener sagst du dann die Wörter nicht mehr, weil es sich nicht gehört. Du denkst sie aber noch, weil sie im Kopf sind. Fest verankert von Kindesbeinen an. Das ist das Erbe (nicht nur) meiner Generation. Die Großeltern geprägt vom Nazideutschland, oftmals selber nicht mehr fähig zu reflektieren. Ich kann das ein wenig verstehen, nach all dem Leid, Kummer und den Entbehrungen, dass einfach die Kraft gefehlt hat, das innerlich aufzuarbeiten. Scheiße ist es trotzdem.

Mir wird es flau ums Herz, wenn ich an die Zeit zurückdenke, wo wir ohne nachzudenken Menschen so schrecklich abwertend genannt haben, obwohl sie unsere Freunde waren. Und das schlimmste, was sie damals erwidern konnten, war Arschloch, oder andere ähnliche Schimpfwörter. Es sind Schimpfwörter. Was wir benutzten war rassistisch und diskriminierend. Es war beleidigend und abgrundtief schlecht. Ich frage mich, was diese Leute damals dabei gefühlt haben müssen. Nicht nur die Kinder, die mit uns zusammen waren, sondern ja gerade die Erwachsenen.

Ich kann gar nicht sagen, ob es bei mir dieses eine Erlebnis gab, welches mich zum Nachdenken brachte. Meine Vermutung ist, dass es die mediale Berichterstattung war, z.B. über die Angriffe auf die Flüchtlingsunterkünfte schon in den 90ern. Das hat sich immer weiter fortgesetzt. In der Schule behandelten wir sehr ausführlich Nazideutschland. Auch so ein Punkt in meinem Leben, der mir klar vor Augen geführt hat, was auf gar keinen Fall jemals wieder passieren darf. Ich habe mich schuldig gefühlt und mich geschämt.

Es hat trotzdem viele Jahre gedauert, bis in meinem Kopf ein klares Verständnis darüber herrschte, was ich früher für Begriffe benutzt habe. Auf der einen Seite ein klarer Gegner jedweder Unterdrückung, Diskriminierung und rassistischer Ausdrücke, aber auf der anderen Seite benutzte ich Wörter, die ganz klar diesen Gebieten zuzuordnen waren. Das, und das Verhalten welches ich weiter oben beschrieb, brachten mich dazu, sehr genau hinzuschauen und hin zuhören.

Anfänglich habe ich Begriffe nachgeschlagen, später im Internet nach Erklärungen und Herkunft gesucht. Es ist ein recht langer Weg aus den leicht verklärten Vororten mit dem gebräuchlichen Sprachgebrauch, hin zu einem Kopf, der nicht mehr in diesen Mustern denkt und arbeitet. Ein großer Fehler ist es in meinen Augen, hier z.B. von Akzeptanz zu reden. Wir brauchen nicht mehr Akzeptanz, sondern müssen mit der Ausgrenzung aufhören. Wir brauchen nicht mehr freundliche Wörter, wir müssen mit der Diskriminierung aufhören. Wir müssen nicht von fremden Kulturen sprechen, wir müssen mit dem Rassismus aufhören.

Mein Weg war, mir einzugestehen, dass das in mir drin ist und ich niemals ohne Fehler sein werde. Aber ich habe angefangen andere Menschen auf ihr Verhalten und ihren Sprachgebrauch hinzuweisen. Wir haben in unserer Familie offen darüber gesprochen und unserer Tochter diese Wörter direkt erspart. Wir haben ihr erklärt, so gut wir es konnten, was Rassismus, Diskriminierung und Sexismus sind und was das mit den Menschen macht. Jetzt ist ein Punkt erreicht, an dem sie mich hin und wieder so lapidar hinweist: „Das war jetzt aber sexistisch, Papa!“ und ich bin stolz darauf.

Für mich hat es funktioniert. Dieses Kind weiß sich auszudrücken, sie steht ein für andere und kennt es nicht anders, als sich gegen diese Formen der Unterdrückung zu wehren. Das war wichtig, denn für mich ist damit der erste Kreis der Hölle durchbrochen und zumindest das lässt mich das ein wenig hoffnungsfroher in die Zukunft schauen. Es ist an uns, dieses Kapitel hinter uns zu lassen.

Dieser Text ist entstanden, weil mich die Sendung Beste Instanz von Enissa Amani an meine eigenen Gedanken dazu erinnert hat. Ich kann die Sendung nur empfehlen, weil sie mir auch wieder gezeigt hat, dass wir das hier für uns in der Familie vielleicht gelöst haben, aber in der Gesellschaft ist noch sehr viel zu tun.

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