Leonore Rigsby

Leonore Rigsby war pünktlich. Sie war immer pünktlich. Vor vielen Jahren war sie einmal zu spät gekommen und die Folgen waren dramatisch. So dramatisch, dass sie seitdem immer zeitig erschien, wo auch immer sie sein musste. Oder wollte. Es gab nichts, das ihr pünktliches Erscheinen irgendwie hätte verhindern können. Ob sie sich selbst dessen bewusst war, ist nicht bekannt. Nehmen wir es also so hin.

Auch an diesem Abend ruckelte sie mit ihrer kleinen Ape auf den Parkplatz für den letzten Job des Abends. Außen an dem Gefährt hingen in aufwendigen Befestigungen ihre Arbeitsmittel. Eimer, Lappen, Schrubber, Wischmopp, Gummihandschuhe und diverse Flaschen mit Reinigungsmitteln. Ein kleiner Akkustaubsauger wie Kehrblech und Handbesen fehlten natürlich auch nicht. Leonore schwang sich behände aus dem Ape und korrigierte den Sitz ihrer gehäkelten Umhängetasche. Die Tasche enthielt außer einer Flasche Wasser und etwas Obst für die Pause auch ihre Wolle und Stricknadeln. Sie liebte es zu stricken.

Der Tag neigte sich langsam dem Ende zu, die Front der großen Schokoladenfabrik versank bereits in der um sich greifenden Dämmerung. Die Büros waren leer und nur vereinzelt warfen ein paar Lampen etwas Licht nach außen. Die große Reklame oben auf dem Dach hatten die Eigentümer aus klimatischen Gründen ausgeschaltet. Vermutlich ging es dabei aber eher um die Stromrechnung. Egal, die Neonröhren lagen dunkel in der Luft.

Sie packte ihre Arbeitsmittel und ging auf einen kleinen Eingang neben dem Hauptportal zu. Der Nachtpförtner winkte ihr fröhlich aus seinem Refugium zu, sie nickte kurz. Mehr war mit den vollgepackten Armen nicht möglich. An der Tür hielt sie ihren rechten Oberarm mit einer aufwendigen Verrenkung an einen Sensor. Dort hatte sie in einer Tasche am Ärmel ihrer dünnen Jacke die Zutrittskarte eingesteckt. So war es möglich in die Firma zu kommen, ohne ihren ganzen Utensilien abzustellen. Die Tür glitt leise auf und in der nächsten Sekunde hatte sie die Wand verschluckt.

Ihre Sohlen quietschten leise auf dem mit Linoleum ausgelegten Boden. Sie wusste genau, wohin sie gehen musste. Ihre Aufgabe war es heute, den großen Konferenzraum auf akribisch zu reinigen. Morgen stand angeblich ein wichtiges Treffen der Firmenleitung mit potenziellen Geldgebern an. Aber eigentlich war ihr das egal. Sie würde ihren Job heute so machen, wie sie ihn immer machte. Gründlich, reinlich und nahezu perfekt. Dazu muss man wissen, dass es noch nie eine Beschwerde über ihre Arbeit gegeben hatte. Niemals.

Angekommen entledigte sie sich ihrer dünnen Jacke, hängte sie über einen der Stühle und schaute sich aufmerksam im Raum um. Sie sondierte jeden Zentimeter, bemerkte alle schmutzigen Stellen und sogar die, die erst im Begriff waren, schmutzig zu werden. Leonore hatte ein Auge dafür. Zwei, Entschuldigung, es sind natürlich zwei Augen. Als sie damit fertig war, setzte sie ihre Kopfhörer auf, startete die Playlist auf ihrem mp3-Player und zog sich die Gummihandschuhe an. Sie fing mit allem oberhalb des Fußbodens an. Später konnte sie dann den heruntergefallenen Dreck mit der Bodensäuberung entfernen.

Nachdem sie einige Zeit geputzt hatte, zeigte ihre Uhr am Handgelenk durch beständiges Piepen und Vibrieren, dass nun die Pause anstand. Sie legte alles beiseite, stoppte die Playlist und aß ihr Obst. Danach wollte sie eigentlich noch ein paar Maschen stricken. Sie war mit sehr farbenfrohen Wollsocken beschäftigt. Als sie gerade das Strickzeug aus ihrer Tasche nehmen wollte, hörte sie einen Tumult draußen auf dem Flur. Sie hängte sich die Tasche um, die sie in der Hand hatte und beschloss nachsehen zu gehen.

Auf dem Flur sah sie den Pförtner, wie er von zwei maskierten Menschen angetrieben wurde, irgendwohin zu gehen. „Haben die hier etwa einen Safe mit Bargeld?“, fragte sich Leonore. Sie wusste ansonsten nicht, warum jemand in eine Schokoladenfabrik einbrechen wollte. Der Pförtner jedenfalls wimmerte vor Angst und bettelte, man möge ihm doch bitte nichts zuleide tun. Sie hatte genug gesehen und gehört.

„Hey! Maskenbubis! Was macht ihr da mit dem Mann?“

Die beiden blieben abrupt stehen und drehten sich auf der Stelle um. Dann schauten sie sich an. Leonore wusste, was in ihren Köpfen vorging. Sie rätselten, was diese Frau von ihnen wollte. Sie sahen sich eine in einem regenbogenfarbenen Strickpulli, mit hellblauer Leggings und Basketballturnschuhen bekleideten Reinigungskraft gegenüber. Die Verachtung, die ihr entgegenschlug, hätte nicht größer sein können.

Sie behielt die Ruhe. „Ich habe das Gefühl, dass ihr beiden hier nicht hingehört. Ich muss hier sauber machen und kann irgendwelche Machos, die ihren Müll hinterlassen, jetzt überhaupt nicht gebrauchen.“

Der größere der beiden Männer zuckte mit den Schultern und setzte sich in ihre Richtung in Bewegung.

„Bleib, wo du bist“, sagte sie freundlich, beinahe fröhlich. Er ging weiter. Leonore griff in ihre Umhängetasche und holte die beiden Stricknadeln hervor. Mit einer plötzlich veränderten Stimme rief sie dem Mann entgegen: „ICH BIN RIGSBY UND SAGTE, BLEIB WO DU BIST!“.

Der Einbrecher störte sich nicht daran.

Mit einem gekonnten Schwung warf sie ihren Arm nach hinten und schleuderte in einer blitzartig ausgeführten Vorwärtsbewegung eine der Nadeln auf den nahenden Angreifer. Das Geschoss versank bis kurz vor dem Ende in dem Knie des Mannes. Dieser stürzte sofort vor Schmerzen schreiend auf den Boden und kam nicht mehr näher.

Der andere schien erst nicht zu begreifen, beugte sich dann zu seinem Partner herunter und zuckte erschrocken zurück. Einige Sekunden starrte er Leonore an, die immer noch wie die Jungfrau von Orleans mit der einen Nadel in der Hand in Angriffsposition da stand und seinen Blick ruhig erwiderte.

Die Luft schien um sie herum zu kochen. Farben verschwammen und Konturen lösten sich in verwirrenden Mustern auf. Der Mann drehte sich herum und begann zu rennen. Leonore setzte sich auch in Bewegung.

Auf dem Parkplatz stieg der Mann in einen schweren SUV und begann mit quietschenden Reifen seine Flucht.

„SUV, das war wohl klar“, dachte sie laut. Dann stieg sie in ihre Ape und drückte ein paar unter dem Sitz verborgene Knüpfe. Innerhalb weniger Sekunden hatte die Ape eine Motocross-Bereifung und so etwas Ähnliches wie einen Raketenantrieb. Nicht ganz so, aber nahe dran. Sie beschleunigten das nun in einem nachtähnlichen Schwarz schimmernde Vehikel und holte den SUV ziemlich schnell ein. Der Mann schaute etwas zu lange verdutzt aus dem Seitenfenster, als Leonore mit ihrem schwarzen Kometen neben ihm auftauchte. Er sah nicht, dass er hätte abbiegen müssen, um nicht im Fluss zu landen. Die Ape schoss pfeilschnell in die Ausfahrt, der SUV platschte mit all seinem Gewicht in den Fluss und schwamm eine Weile gemächlich an der Oberfläche herum.

Als Leonore zu der Stelle kam, lag der Einbrecher vollkommen außer Atem und bewegungsunfähig am Ufer. Sie rief die Polizei und machte sich auf den Weg zurück zur Schokoladenfabrik. Sie musste noch einiges mehr an Schmutz wegräumen, als bei ihrer Ankunft.

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