Zeitungsente

Wir alle haben unsere Rituale, die insbesondere unsere Körper in den Zustand bringen sollen, einen Tag zu ertragen. Meins ist die Zeitung am Morgen. Ich lese, meiner Frau nach sehr pedantisch, jeden Artikel auf jeder Seite. Ohne geht es nicht. Vorher kann ich nicht das Haus verlassen oder mit der Arbeit beginnen.

Damit ich nicht durcheinander komme, liegen die gelesenen Exemplare auf der einen Seite des Schreibtisches, die im Status »Lesemodus« in der Mitte. Ordnung muss sein. Es geht immerhin darum, jeden Artikel auf jeder Seite zu lesen. Vielleicht ist das tatsächlich eine gewisse Pedanterie, aber ich mache mir da nichts vor. Wer die Kontrolle über seine Zeitung verliert, hat im Alltag nichts zu lachen.

An diesem Morgen war es etwas anders. Ich musste meine Leseaktivität kurz unterbrechen, um weiteren Kaffee aufzusetzen. Während ich also mit den Utensilien hantierte, fragte die Tochter nach einem Stück größerem Papier. Es musste wohl etwas verpackt werden. Kurz abgelenkt, verwies ich auf die gelesenen Zeitungen auf dem Schreibtisch.

Sie werden ahnen, was passiert ist. Die oberste, ungelesene Seite aus der Mitte des Tisches fehlte, als ich zurück zum Schreibtisch kam. Die Kaffeetasse zitterte heftig in meiner Hand, sodass ich sie lieber direkt auf den Boden fallen ließ. Wer will sich die Finger mit heißem Kaffee verbrühen? Mein furchtbarer Schrei des Entsetzens gellte durch das ganze Haus. Ich rief sofort nach der Tochter. Die war allerdings schon längst auf dem Weg in die Schule.

Ich ließ alles stehen und liegen, rannte zum Auto und starte, ganz wie ein professioneller Rennfahrer, meine Verfolgungsjagd. Nach einem Kilometer hatte ich den Schulbus erreicht und setzte mich mit dem Auto praktisch auf das Heck. Ich durfte ihn nicht verlieren. Immerhin transportierte er meine wertvollste Fracht, die fehlende Zeitungsseite im Rucksack meiner Tochter.

An der Schule sprang ich aus dem Auto und warte darauf, dass die Zeitungsseite endlich ausstieg. Sie kam nicht. In meinem Kopf rotierte alles. Gehetzt fragte ich einen Schüler, ob er denn meine Zeitungsseite gesehen hatte. Verwirrt schaute er mich an. »Sie sind doch der Vater von XY? Die ist heute mit dem Rad gefahren, die war nicht im Bus.«

Ich schleuderte ihn aus dem Weg und rannte zum Schulgebäude. Die schwere Tür krachte laut gegen das altehrwürdige Gemäuer und einige Jahrhunderte brachen aus der Wand heraus. Mit vogelartigen Bewegungen scannte ich die Flure und Treppen. Dann sog ich tief die Luft ein und sofort holte mich der Schulmuff zurück in eine Zeit, die ich längst hinter mir gelassen glaubte. Vor meinen Augen flimmerte der alte Rektor um die Ecke und herrschte mich an, endlich in die Klasse zu gehen.

Auf den Fluren soll nicht gerannt werden, ich schüttelte den alten Rektor aus meinem Kopf und trabte los. Nach unendlicher Zeit fand ich die Klasse der Tochter und stürmte hinein. Die Lehrerin, eine knarzige ältere Dame, schaute mich streng an. Ich sah mich um. Keine Tochter. Als ich ihren Namen stammelte, bekam ich immerhin den Hinweis, dass sie in der anderen Gruppe sei. Im Kunstraum.

Mit der Wegbeschreibung, die ich mir schnell mit dem Stift eines Schülers auf den Arm notiert hatte, rannte ich weiter durch die Schule. Währenddessen dachte ich angestrengt nach, ob es diese unnötigen Dinge, wie getrennte Gruppen, zu meiner Schulzeit auch gegeben hatte. Jedenfalls beschloss ich, auf der nächsten Schulversammlung einen entsprechenden Antrag auf Einstellung dieser Vorgehensweise zu stellen.

Im Kunstraum war es dann ganz einfach. Die Tochter saß an einem der Tische und schaffte Kunst. Die Aufgabe für heute schien ein Plakat zu sein. Neben jedem Tisch befand sich ein leeres Papier in Postergröße an einem Ständer fixiert. Auf den Tischen lagen Zeitschriften und Zeitungen, Stifte, Kleber, als ich aber die Scheren sah, kollabierte mein Verstand.

Vor Monaten bereits wurde ich aus der Heilanstalt entlassen. Die Ehefrau bekam gesagt, dass man sich nicht viel Hoffnung auf eine komplette Genesung machen würde. Immerhin stufte man mich nicht mehr als gefährlich ein und ich durfte nach Hause. So sitze ich hier und versuche immer noch die ungelesene Zeitungsseite zusammenzusetzen. Ich muss sie doch endlich lesen.

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