Auferlegte Pflichten

Vermutlich liegt es am Alter und dem Zustand der Welt im Allgemeinen, dass mich Gedanken überkommen, die ich allerhöchstens in einem sehr jungen Gehirn verorten würde. Ich meine damit ein Gehirn aus einem pubertierenden Körper. Ein frischer, junger Verstand, der sich fragt, warum er dies und das machen muss; das Verständnis für die Welt suchend und dabei Konventionen brechend.

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Erkenntnisse

Schon als Kind latschte ich mit einer großen Ledertasche bei Oma in den Keller und tauschte die leeren Bierflaschen gegen volle aus. Es gab keinen Mangel bei den Großeltern, schon gar nicht auf Feierlichkeiten. Durch ihre Arbeit an der Ritterbrauerei in Dortmund gab es auch genügend Deputat in Form von Bier und Limonade, die sich in Kästen an den Wänden stapelten.
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Schwarzes Herz

Ab einem Punkt legst du das Buch nicht mehr weg, du musst es durchlesen, weil du hoffst, dass am Ende alles gut wird.

So habe ich das Buch von Jasmina Kuhnke erfahren. Ich fing an zu lesen und durfte nicht mehr stoppen. Normalerweise würde ich über ein Buch, das mich derartig in den Bann zieht, schreiben, dass es ein gutes Buch ist. Hier widerstrebt es mir in solchen Kategorien zu denken.

Jasmina erzählt, wie sie aufgewachsen ist. Der Inhalt ist so persönlich wie grausam. Selbstverständlich gibt es Menschen, die das Geschehene als emotionale Übertreibung abtun. Genau diese Menschen stehen auf der anderen Seite, sind nicht betroffen vom Rassismus, der in so unfassbar vielen Facetten mal offen, mal verdeckt auf die Betroffenen einschlägt.

Ich bin 12 Jahre älter als die Autorin, weiß und grundsätzlich privilegiert aufgewachsen. Armut kenne ich nicht. Als Jasmina geboren wurde, habe ich mir mein erstes Iron Maiden Album gekauft. Ich bin ein Jugendlicher aus den 80ern und pubertierte als Pommesbudengeneration so vor mich hin. Wenn Jasmina in ihrem Buch vom Umgang mit Menschen anderer Herkunft oder Hautfarbe schreibt, nicke ich zustimmend.

Ich war mit einem etwas älteren Jungen aus dem Senegal befreundet. Er bot sich an, mir Englisch beizubringen, meine Eltern wollten „so einen“ aber lieber nicht in der Wohnung haben. Am Ende saßen wir in der Kneipe und tranken Bier, während wir uns auf Englisch unterhielten. Ich war oft bei unseren türkischen Nachbarn zum Essen eingeladen, weil ich mit den Kindern der Familie spielte. Meine Oma schüttelte sich und bemerkte bissig, dass ich aufpassen soll was ich da esse.

Ich habe Menschen nie so gesehen. Ich weiß nicht warum, denn das Umfeld war komplett anders. Und genau das ist, was Jasmina Kuhnke erlebt hat. In allen perversen Ausprägungen. Sie beschreibt eindrücklich, was Rassismus mit ihr und ihrem Leben gemacht hat. Ich habe oben geschrieben, dass ich genickt habe zu ihren Ausführungen, weil ich das kenne. Das bedeutet nicht, dass ich auch nur ansatzweise wüsste, wie dem Rassismus ausgesetzte Menschen sich fühlen. Ich habe nur gesehen und gehört, wie grausam Menschen mit anderen Menschen umgehen. Fühlen oder erfahren musste ich das nie.

Deswegen ist das Buch „Schwarzes Herz“ so wichtig. Es ist von der Autorin ein Statement, eine Anklage und eine Befreiung gleichermaßen. Für uns ist es ein Spiegel, ein Schlag ins Gesicht und ein Ansporn. Wir müssen unseren Blick auf die Menschen fokussieren, nicht auf unsere eigenen, irrationalen Ängste vor, ja, vor was denn eigentlich?

Wenn wir es schaffen den Menschen zu sehen, dann wird vielleicht irgendwann alles gut. Jasmina und allen anderen Menschen mit diesen Horrorerfahrungen wünsche ich das aus tiefstem Herzen.

Lest das Buch!

Cover "Schwarzes Herz" von Jasmina Kuhnke
Cover „Schwarzes Herz“ von Jasmina Kuhnke

Aus dem Leben

Wenn du in jungen Jahren die Stadt wechseln musst, all deine Freunde hinter dir lässt, weil deine Eltern das so bestimmt haben, bist du nicht das glücklichste Kind. Auch wenn es von Vorort zu Vorort geht, die Umgebung ähnlich ist, aber die Wohnung eben ganz anders, das Haus voll mit anderen, fremden Menschen, lauten Menschen, dann trägt das nicht weiter zur Umgewöhnung bei.

Tagsüber die fremden Kinder in der Schule, nachmittags mit der Mutter allein, weil Vater in anderen Ländern das Geld verdient. Hinten aus den Fenstern blickst du auf unzählige andere Fenster, mit Gardinen, ohne Gardinen, geputzt oder dreckig, mit Gesichtern, die auch hinaus schauen, ohne Gesichter und manchmal auch, so denkst du, weil sie immer leer sind, die Scheiben und Rahmen, manchmal auch ohne Menschen in den Räumen dahinter.

Schaust du vorne raus, siehst du die Frittenbude, deren Fettgestank die Straße beherrscht, wenn im Sommer nur ein leichter, heißer, abgestandener Wind geht, morgens, wenn das Fett abgetragen von der Nacht auf den Steinen liegt, dreht sich leise die Lüftung des Kühlhauses des kleinen Ladens an der Ecke und drückt den Geruch rohen Fleisches in die Straße.

Nein, du bist nicht sonderlich glücklich mit dem Ortswechsel. Aber es interessiert niemanden. Jammer nicht, heißt es, such dir neue Freunde, bist doch sonst nicht so verklemmt.

Freunde suchen, in einem Umfeld, das du bisher so nicht kanntest. Rechts unten wohnen Alkoholiker mit drei Kindern, ein Junge in deinem Alter. Hinterhältig und gemein ist er. Aber auch ohne großen Freundeskreis. Man findet sich halt. Links im Haus nebenan, diese Familie mit sechs Kindern, von unterschiedlichen Männern, niemand geht arbeiten. Halt dich davon fern, heißt es eindringlich. Doch genau dort findest du deinen besten Freund, zwar erst viel später, aber er ist das, was einen Freund ausmacht. Die Erkenntnis kommt dir leider beinahe zu spät, weil ihr dann schon kurz davor seid volljährig zu werden und sich eure Wege bald trennen werden. Bis dahin ist es aber ein langer Weg, den du erst einmal mit den falschen Leuten antrittst.

Es gibt nicht viel, was Kinder zwischen den Häuserschluchten machen können. Ein verrottender Abenteuerspielplatz wird durch Garagen ersetzt, der Spielplatz ist bald von Müttern mit Kleinkindern besetzt, die euch nicht haben wollen. Ihr seid zu grob, zu laut und zu unflätig. Vielleicht haben sie recht. Vermutlich stimmt es.

Deswegen spielt ihr auf den Garagendächern, mit Fußbällen zwischen den Garagen, dass es bis nach Warschau hallt. Der Sportplatz ist unter der Woche geschlossen und wer sich darauf erwischen lässt, ist dran. Der Platzwart ist ein so furchteinflößender Mensch, dass sich niemand in dem kleinen Ort, wo jeder jeden kennt, auch nur daran denkt, den Platz ohne Erlaubnis zu betreten. Wir Siedlungskinder haben eh keine Erlaubnis zu erwarten, außer die Eltern bezahlen den Beitrag, dann darfst du zu Trainingszeiten erscheinen und dich vom Trainer anschreien lassen.

Das Gewummere der Bälle an den Blechtoren der Garagen ruft nach nur kurzer Zeit den Verwalter auf den Plan. Er wohnt nur ein oder zwei Eingänge entfernt in seiner Verwalterwohnung. Sein Sohn ist schon erwachsen, aber nicht ganz klar im Kopf, wie uns scheint. Er kommt uns sonderbar vor. Sein Vater auch. Ein Choleriker wie er im Buche steht. Schreit los, noch bevor sich die Haustür hinter ihm geschlossen hat. Wäre er intelligenter vorgegangen, er hätte uns übermütigen Schnösel alsbald am Schlafittchen gehabt. So aber entziehen wir uns ihm unter lauten Gebrüll unsererseits, was sein Gezeter nur noch anheizt und bald ist das Gewummere der Bälle an dem Blech der Garagentore nur ein leises, zartes Harfenspiel. So geht es den Sommer über. Wir legen es darauf an, dass er wild brüllend aus seiner Wohnung gerannt kommt und wir ziehen uns, ihn beständig weiter provozierend, in sichere Entfernung zurück.

Ich muss heute gestehen, dass wir uns in dieses Spiel hineinsteigerten. Eines Tages, als wir ihn wieder aus der Wohnung geholt hatten, stiegen wir auf die Garagen und setzten dort unsere Schimpftiraden fort, während er unten zwischen den Garagen mit seinem steifen Bein, krebsrot im Gesicht, herum humpelte und uns drohte. Wir lachten, bis die Tränen aus unseren Augen rannen. Irgendwann gab er auf, er konnte ja mit seinem Bein nicht auf die Garagen klettern, selbst wenn, wir wären schneller weg, als der Pfarrer Amen sagen kann.

Also stiegen wir, uns in Sicherheit wiegend, von den so oder so verbotenen Garagendächern herab. Plötzlich fanden wir uns zu zweit von starken Armen geschnappt und konnten uns nicht winden, nicht entkommen. Sein Sohn. Angst schoss uns in den Magen und die Übelkeit siedete in der Säure. Was würde er mit uns machen? Wir hielten ihn ja nicht für ganz dicht. Würde er uns prügeln? Vorerst hielt er uns nur fest; wie sich später herausstellte, war er sich der Wirkung seiner Kraft durchaus bewusst.

Er steckte seinen Kopf zwischen unsere beiden und sprach ruhig in jeweils eines unserer Ohren: „Lasst doch meinen Papa in Frieden. Er ist es nicht gewohnt mit Kindern umzugehen. Deswegen muss er dann immer so brüllen. Früher hat das Mama ja gemacht, sich um mich und meine Schwester gekümmert. Dann ist sie gestorben und er war alleine. Ganz plötzlich musste er sich um uns Kinder kümmern. Das war nicht leicht. Ich weiß nicht, ob ihr euch das schon vorstellen könnt, aber es ist nicht leicht für einen Mann, der sein Leben nur in der Arbeit war, plötzlich mit zwei Kindern alleine zu sein. Die Verantwortung, der Verlust der Arbeit. Ich bitte euch, lasst ihm seine Ruhe.“

Wie es meinem Freund dabei erging weiß ich nicht, aber ich sah mich selber, nach dem Umzug in diese Gegend, mit all den unbekannten Dingen, ohne Freunde, alleine zwischen den Häusern anfänglich und erinnerte mich, wie schwer es war hier klar zu kommen. Wie schwer es im Grunde immer noch war und wir deswegen einen alten Mann ärgern mussten, bis sein Sohn, der gar nicht blöde sondern extrem freundlich und gesittet war, uns ins Gewissen reden musste. Irgendwo in der Ferne machte es ein Geräusch, als wenn ein rostiges Zahnrad in ein anderes einrastet und unsere Charakterstufe wurde um eins erhöht. Von da an wurde der alte Mann unbeachtet gelassen und Mädchen rückten in den Fokus. Aber das ist eine andere Geschichte.

Eltern und Kinder

Eltern und Kinder

Seit dem ich im Home Office viel auf der Terrasse arbeiten kann kriege ich auch viel von dem mit, was so in der Nachbarschaft abläuft. Es gibt da lustige Dinge, es gibt anstrengende Dinge und es gibt diese Dinge, die mich unendlich wütend machen.


Um uns herum wohnen viele Familien mit Kindern. Einige Schulkinder, andere sind Kleinkinder, wieder andere im Kindergartenalter. Selbstverständlich ist es da laut, wenn die Nachmittags, bzw. morgens in den Ferien, in den Höfen und Einfahrten spielen. Spielende Kinder sind etwas schönes und sollten dazu auch die Möglichkeiten haben. In unserer Straße, einer Spielstraße, ist es zum Glück so. Das sind die schönen Dinge. Die weniger schönen haben grundsätzlich mit den Eltern der Kinder zu tun.

So zum Beispiel der Nachbar auf der rechten Seite, der seine Tochter grundsätzlich mit „Eyh!“ anschreit, so wie seine Hunde und seine Frau. Dann wundern sie beide sich, dass die Tochter in einer Tour laut brüllend ihre Meinung kund tut. Die Tochter ist auch die, die seit diesem Jahr in den Kindergarten geht. Der ist 150 Meter von hier entfernt und die Mutter fährt sie mit dem Auto dahin. Ich frage mich, was für eine Art Mensch das später sein soll, der da aufwächst.

Gegenüber sind neue Leute eingezogen. Anfänglich war alles super, sie haben das Haus renoviert und viel daran gemacht. Der Mann hatte wohl Pandemie bedingt auch Home Office. Jetzt ist er wieder arbeiten und die Frau brüllt jeden Morgen ihr Kindergartenkind zusammen. Das Kind schreit, sie brüllt zurück, brüllt ihr die Schuld für das angebliche Zuspätkommen ins Gesicht, das Kind weint, sie schreit es bis ins Auto. Heute früh hat sie sich komplett demaskiert in dem sie in ein hysterisches Geschreie verfallen ist. Was soll das werden?


Ich habe heute gezwungenermaßen zugehört (wie der Rest der Straße sicherlich auch) und tief in mich hineingeschaut. Nein, ich habe meine Kinder nie angeschrien. Schon gar nicht so. Die älteste Tochter ist mittlerweile 30 Jahre, die Jüngste wird bald 13. Denn Sinn eines Wutausbruches als Erwachsener bei einem Kind habe ich nie verstanden. Wenn ich jemanden anschreie oder in Grund und Boden brülle, macht das nichts besser und das Signal ist so falsch wie nur etwas falsch sein kann.


Vielleicht sind wir hier mit unserer Art und Weise nah an dem was Antiautoritär genannt wird. Ich bin aber der Meinung, dass das Heranwachsen eines Kindes viel komplexer ist, als dass wir dafür einfache Begriffe hernehmen könnten. Auch Erziehung ist so ein Wort, bei dem ich nicht weiß, ob es richtig ist. Für mich steckt da das Wort „ziehen“ drin. Ich möchte nicht einen Menschen in eine Richtung ziehen, von der ich denke sie ist richtig. Ich möchte, dass sich der Mensch in eine Richtung entwickelt, die für ihn die richtige ist. Dabei kann ich unterstützen, vertrauen und respektieren. Aber ziehen? Nein, das erscheint mir falsch. Brüllen und klein machen am allerfalschesten.