Vergessen

Ich spüre so etwas wie Melancholie in mir aufsteigen, wobei ich nicht ganz sicher bin, ob dieses diffuse Gefühl wirklich eine Traurigkeit ist oder mit Schwermut vergleichbar wäre. Vermutlich ist es viel mehr, vermischt mit einer alten und einer ganz neuen Angst.

Die neue Angst werde ich hier nicht thematisieren. Zu neu, zu undurchschaubar und immer noch veränderbar. Die alte Angst kommt hoch, weil sie situativ abgeschlossen, aber keinesfalls vergessen ist. Es ist die Angst, die dich als Kind packt und schüttelt, wenn in deiner Familie etwas ganz und gar aus dem Ruder läuft.

Aus dem Ruder gelaufen ist allerdings ein schon beinahe beleidigender Ausdruck für das, was geschehen ist. Du liegst als Teenager schlafend in deinem Bett, dann weckt dich deine Mutter mit verquollenem, blauem Gesicht mitten in der Nacht und das Leben, das du bisher geführt hast, ist vorbei. Weg. Unwiderruflich kaputt. Eine Nacht, in der alles zusammenbricht.

Ich weiß, wo wir in den folgenden 7 Tagen gelebt haben. An danach kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nicht, ob wir in die Wohnung zurück sind, ob wir woanders hin sind. Die erste richtige Erinnerung ist, wie die heute große Tochter in meinem Arm liegt und ich schwöre, es besser hinzukriegen.

Ich kann das nicht vergessen, diesen Moment als das Licht in meinem Zimmer mich beinahe blendet und meine Mutter mich schüttelt, bis ich endlich verstehe was sie zu mir sagt, ich aber nicht begreife warum sie möchte, dass ich mich anziehe und den Rucksack mit Wäsche fülle, alles immer hektischer und kreischender wird, bis die Tür hinter uns ins Schloss fällt und wir im Taxi sitzen, auf dem Weg irgendwo hin, ich aus dem Fenster starre und immer noch nicht verstehe was diese Nacht für uns bedeuten wird. Stille. Leere. Dunkelheit.

Was ich auch nicht weiß, warum es diese Jahreszeit sein muss. Zeitlich hat sie nichts mit der Nacht gemein. Und doch jetzt. Vielleicht ist das die Besinnlichkeit, zu der ich fähig bin. Mich in diffusen Gefühlen an diese schlimmen Dinge erinnern, die irgendwann passiert sind, lange bevor ich derartiges hätte verstehen können. Kann man so etwas überhaupt verstehen?

Vergessen kann ich es jedenfalls nicht. Das Gefühl heute, nach all den Jahrzehnten, ist so diffus, dass ich es nicht anders als Melancholie bezeichnen kann. Vermutlich ist es etwas anderes und es gibt einen medizinischen Fachausdruck dafür, der mich aber auch nicht weiter bringen würde.

Es ist nicht nur die Erinnerung an die Situation, die sich bei mir auswirkt, sondern auch der Gedanke daran, wie viel Energie es mich Zeit meines Lebens gekostet hat, immer daran zu denken und zu verhindern auch so zu werden. Das ist die wahre, einzige Angst, die ich immer verspürt habe.

Vielleicht ist es auch so, dass in diesen Tagen viel an die Familie gedacht wird und ich höre dabei in mich hinein, ob die alte Angst noch ihr Lied in mir spielt und ich dann mit einer tiefen Traurigkeit an meine Mutter denken muss, die all die Jahre für uns funktioniert hat. Danke. Das werde ich nicht vergessen.

2 Gedanken zu “Vergessen

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