Geißel der Gärten

Anmerkung vorab: Vermutlich wird diese Geschichte nicht jeder Leser verstehen. Euch sei gesagt, diese Geschichte entspringt einer sehr, sehr realen Situation. Eine seit vielen Jahren liebe Bekannte aus sozialen Netzwerken, nennt sich „Geißeltierchen“. Sie hat uns alle an der Werdung ihres kleinen Schrebergartens teilhaben lassen. Diese Inspektion gibt es wirklich und sie wird für ihren Garten in den nächsten Tagen stattfinden. Aus diesem Umstand heraus ist mir diese Geschichte in den Kopf gekommen.

Mir ist etwas zu Ohren gekommen, das sich erst sehr merkwürdig, dann aber als furchtbar unheimlich zu erkennen gibt. Es geht um eine Frau, die zum Glück viele Kilometer weit weg von mir wohnt. Ich möchte ihr wirklich nicht begegnen. Im Grunde ist anfänglich alles sehr harmlos, ja, es fühlt sich richtig und gut an. Da ist ein Stück Garten, ein Verein und viele Tage akribischer Vorbereitung, an deren Ende ein wunderschönes Gärtchen mit einer Laube entstanden ist. Dann wird es dramatisch bis erschreckend.

Schon die Bewerbung mit den Formalitäten lässt ihr in regelmäßigen Abständen die Schweißperlen am Rücken herablaufen. Das ist alles so bürokratisch und erweckt den Anschein strengster Genauigkeit. Einen Teil kann sie durch ihren Beruf abfangen, der auch von akribischer Genauigkeit lebt. Aber das hier ist nun mal nicht die Arbeit, sondern ihre freie Zone für danach. Sie steht es durch und nach einigen bangen Tagen erhält sie die Zusage. Sie ist damit Teil einer Schrebergartenkolonie.

Wenn man ihr bei Planung der Beete, der Bäume, Büsche, Rasen und Laube zugesehen hatte, wurde schnell klar: Sie meint es absolut ernst. Sie liebte ihre Parzelle vom ersten Tag an. Jede freie Minute verbrachte sie dort und schaufelte Erde, zog neue Kabel, verlegte Wasserrohre oder entsorgte alte, undichte Dachpappe. Bei all der Arbeit war es natürlich eine große Freude für sie. Sie konnte zusehen, wie alles Form annahm und wurde. Der Garten wurde reif. Am Ende der Geschichte hatte ich das Gefühl, dieses Werden des Gartens könnte auch aus „The Tommyknockers“ von Stephen King stammen.

Im Internet finden sich noch Bilder originalen Planungsunterlagen für den Schrebergarten. Alles wurde fein säuberlich dargestellt, abgemessen und geprüft. Welche Pflanze kann dort, welche hier her und wohin am besten mit einem oder zwei Obstbäumen? Das war alles schon recht professionell. Um nicht zu sagen, extrem gewollt und auf Teufel komm raus erarbeitet.

Eines Tages war es dann so weit und sie veranstaltete eine kleine Begrüßungszusammenkunft für die Kolonie. Es wurden Kuchen gebacken, Getränke besorgt und Kaffee gekocht. Es verlief auch alles recht harmonisch, nur der direkte Nachbar stellte sich, nun, als schwierig heraus. Einer dieser Dauernörgler, wie sie in einer solchen Anlage natürlich nicht fehlen dürfen. Man konnte ihr ansehen und aus ihren Beiträgen (online) schon lesen, wie sehr sie dieser Mensch störte.

Entgegen der Satzung und Verordnung gab es eines Tages ein neues Beet in ihrem Garten. Schön mit Holz eingefasst, dunkle Erde darin und einigen Namensschildern, die über die Bepflanzung Auskunft gaben. Sie wurde darauf hingewiesen, dass es noch eine Prüfung seitens der Stadtverwaltung geben würde, ob denn alles nach Verordnung eingerichtet sei. Dieses Beet wäre zu viel. Sie winkte gelassen ab und erklärte lapidar, dass das schon klappen würde. Vermutlich war ihre Laune deshalb so gut, weil der nervige, störende Nachbar offensichtlich seine Parzelle aufgegeben hatte. Er wurde seit der kleinen Zusammenkunft nicht mehr gesehen.

Wenige Tage bevor der angekündigte Inspektor der Stadt auftauchen sollte, kroch sie mit einem Metermaß über ihr Grundstück und vermaß alles neu und sehr genau. Es passte. Die Verordnung wurde akribisch genau eingehalten. Außer dieses eine Beet, das war nicht nach Vorgabe. Sie hatte einen Plan, wie sie das hinbekommen würde. Dort sollten verschiedene Beerensorten wachsen. Sie würde, bei Bedarf, den Inspektor an der Ernte teilhaben lassen. Praktisch eine kleine, in Naturalien ausgezahlte, Bestechung. Der Plan erschien ihr praktisch Gartenfest.

Die Nacht vor der Inspektion verbrachte sie in ihrer Laube. Das machte sie öfter. Nur hier fühlte sie sich frei von allen Zwängen, die uns das Leben und die Gesellschaft aufbürdeten. Gut gelaunt erwartete sie den Vertreter der Stadtverwaltung. Er kam nicht wie angekündigt. Er kam auch nicht eine halbe Stunde später. Es schien, als würde er gar nicht auftauchen. Als sie gerade zu dem Schluss gekommen war, dass die Inspektion heute nicht stattfinden würde und sie trotzdem noch eine Nacht hier verbringen würde, hörte sie eilige Schritte auf dem Kiesweg stapfen.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und sie sah den Mann erst, als er schon ihr kleines Gartentor öffnete. Sie fühlte sich überrumpelt. Es war spät und die leichte Anspannung war von ihr abgefallen. Jetzt baute sich eine enorme Spannung auf. Sie begrüßten sich freundlich, aber formell. Der Inspektor schaute kurz zu dem Nachbargarten herüber und erwähnte, dass das seinem Cousin gehören würde, dieser sei aber seit Wochen unauffindbar. Sie nickte nur mechanisch. Sein Cousin. Der Inspektor war verwandt mit dem nervigen Kotzbrocken von nebenan. Sie hörte etwas zersplittern in ihrem Kopf.

Es wurde vermessen, berechnet, neu vermessen und zu den geplanten Bepflanzungen nachgefragt. Bisher alles sehr neutral. Beamter eben, dachte sie sich. Die Verwandtschaft ließ sie nicht los. Hätte der Inspektor nicht stur seine Arbeit getan, sondern gelegentlich den Blick zu ihr gewendet, vielleicht hätte er diese aufziehende Schwärze in ihren Augen sehen können. Wie ein dunkler, nein, undurchdringlicher Schatten schob sie sich immer weiter über die Augen. Es gab kein Weiß mehr in ihnen.

Es war jetzt wirklich sehr spät geworden. Wenn ein deutscher Beamter etwas prüfen und bewerten muss, dann dauert das eben. Akkurat, immer alles akkurat und korrekt, würden alle Beamten einstimmig versichern. Die Anlage lag verlassen in der aufkommen Dunkelheit. Sie hatte bereits die Lampions eingeschaltet, die in einem hübschen Bogen am Sonnendach der Laube angebracht waren. Alle anderen Kleingärtner waren bereits zu Hause. Der Inspektor räusperte sich hörbar und hob an, seine Feststellung zu verkünden.

Für sie war es mehr ein Urteil als eine Verkündung. Etwas, das über den Fortbestand ihren eigenen kleinen Hort des Friedens entscheiden würde. Anfänglich zählte der Prüfer die passenden Dinge auf. Alles passte. Dann ging er ein paar Schritte auf die Beete zu und erklärte, dass die Gesamtfläche der Beete nicht den Vorgaben entspreche. Kraft der ihm durch die Stadt und Statuten übertragenen Kompetenz, entziehe er ihr nun per sofortiger Entscheidung die Gartenparzelle. Sie entspräche nicht den Vorschriften und die Stadt hätte jetzt das Recht, sie zurückzufordern.

Also, eigentlich wollte er das sagen. Aber er kam nicht bis dahin. Mit vor Schreck geweiteten Augen sah er stumm mit an, wie sich in dem Schatten die Frau vollkommen veränderte. Aus Armen und Beinen wuchsen lange Tentakeln, die, würde er sich da auskennen, als Geißeln zu erkennen waren. Im nächsten Moment packten sie ihn, hoben in die Luft und er konnte nicht einmal mehr schreien. Es ging sehr schnell. Vermutlich irgendein Gift, dass durch die Auswüchse pulsierte und ihn binnen Sekunden auf die andere Seite des Lebens beförderte.

Am anderen Morgen stand sie mit vor Stolz geschwellter Brust auf der kleinen Veranda der Laube und hatte den abgenommen und als in Ordnung klassifizierten Prüfbericht in den Händen. Der Vorsitzende des Kleingartenvereins schaute skeptisch auf das dritte, neue Beet. Das, sagte er und zeigte dabei auf ihre Beete, sind garantiert zu viele, rein von der Fläche her. Sie zeigte ihm den Bericht, auf dem sehr deutlich die Empfehlung zu lesen war, zwecks Versorgung ein weiteres, oder auch mehrere, Beete anzulegen.

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