An manchen Tagen fühle ich mich richtig schlecht. Es ist nicht so ein körperliches Schlecht, weil die Gelenke knacken oder der Rücken sich nicht aufrichten möchte; es ist ein diffuses Gefühl, generelles schlecht fühlen. Es wird nicht besser, wenn ich dann in mich hineinhorche und diesen seltsamen Zustand an Gründen festmachen kann.
Ich war vollkommen unbeteiligt bei der Auswahl der Region auf diesem Planeten, in die man mich hineingebären sollte. Eines Tages war ich da und wie es der Zufall wollte, auf der nördlichen Halbkugel der Erde, wurde ich in eine der wohlhabendsten Gegenden gewürfelt. Das Leben hier ist immer noch gut. Auch wenn akute Probleme etwas anderes zeigen, im Grunde läuft es für Menschen wie mich immer noch. Genau an diesem Gedankengang fängt dieses schlechte Gefühl an.
Allein durch den Geburtsort und gesellschaftliche Stellung der Familie verlief es weitestgehend problemlos für mich. Es gab immer ein Netz und einen doppelten Boden für meine Eskapaden in der Jugend. Selbst als junger Erwachsener hatte ich meine unsäglichen Fehler eher selten zu bereuen. Es war immer die Familie, die mich auffing. Nicht finanziell, das wäre eher nicht möglich gewesen, aber mit Unterstützung konnte ich immer rechnen. Bis zu einem gewissen Punkt.
Wer so aufwächst und dieses Leben in dieser Form kultivieren kann, hat wenig Probleme. Das lässt einen auch gedankenlos werden. Es ist immer alles verfügbar und deswegen nimmt man Menschen, die hart dafür schuften müssen, nicht mehr wahr. Natürlich musste ich auch arbeiten, auch sehr hart, körperlich und bis an die Grenze des Erträglichen. Ich konnte aber einfach raus aus der Nummer. Ab auf die Abendschule, was anderes erlernen, weiterbilden, fertig. Die wenigsten Menschen haben überhaupt diese Möglichkeiten. War mir damals natürlich nicht bewusst.
Auf dem Weg zum Erwachsenen nahm ich am Rande wahr, dass sich Menschen an Schienen ketteten, um die Transporte von Brennstäben zu verhindern. Leute setzten sich gegen Rassismus ein, plädierten für eine sozialere und gerechtere Gesellschaft; alles irgendwo, weit entfernt von mir. Rückblickend betrachtet, war ich damals ein dummer Tropf, der nichts von der Welt wusste. Das schlechte Gefühl in mir ist an diesem Punkt sehr ausgeprägt. Ich fühle mich schuldig.
Tatsächlich bin ich sehr spät erwachsen geworden. Mein Geburtsjahr lässt anderes vermuten, aber ich weiß genau, wann ich anfing, die Gesellschaft um mich herum überhaupt zu sehen. Oma und Opa ging es sehr schlecht, die Familie driftete immer weiter auseinander, das Verständnis füreinander starb einen leisen, qualvollen Tod. Dieses, und ein paar Dinge mehr, öffneten meine Augen und meinen Verstand.
Vielleicht ist dieses schlechte Gefühl heute in mir nur Selbstmitleid. Vielleicht Reue, weil ich jetzt sehe, was ich in meiner Generation verpasst habe, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die Klimakatastrophe war schon unsere Aufgabe, ich habe es verbockt. Zu angepasst an ein sorgloses, problembefreites Leben, ohne wirklichen Blick in die Zukunft. Es würde schon immer so weitergehen.
Heute weiß ich, dass es eben nicht immer so weitergeht. Das war damals schon klar. Nichts geht einfach immer weiter. Und jetzt haben wir eine Generation, die sich dessen sehr bewusst ist. Die Verzweiflung lässt sie sich auf die Straße kleben, um den Irrsinn zu stoppen, der reguliert und bezahlt von den Superreichen nicht zu bremsen scheint.
Vielleicht ist dieses schlechte Gefühl heute die Angst um meine Kinder, die sich der Katastrophe irgendwie entgegenstellen werden müssen. Mit ihr leben werden müssen. Die Fragen in mir fahren Achterbahn durch meine Synapsen, wie sie das schaffen sollen, was auf sie zukommen wird. Szenen aus Mad Max fallen mir ein und die Angst teilt sich das schlechte Gefühl mit meiner Verzweiflung.
Ich habe Schuld daran, weil ich damals einfach nichts verstand. Mir war es nicht gegeben, das Fiasko zu sehen, die Menschen zu verstehen, die bereits in meinen jungen Jahren alles versuchten, die Lawine aufzuhalten. Blitzende Alufelgen und röhrende Motoren blendeten mich. Was eine Schande.
Vielleicht ist dieses schlechte Gefühl heute das Wissen, dass ich zu lange durch den kapitalistischen Morast gewatet bin, um jetzt noch herauszukommen. Vermutlich ist es all das zusammen, Selbstmitleid, Reue, Angst und Gegenwartswissen.
Der einzige Lichtblick ist, dass ich sehe, wie die Nachkommen es anders machen. Andere Ziele, anderes Verständnis und Selbstverständnis, mehr politisches Wissen, bessere Gedankengänge und Schlussfolgerungen. Schlicht, ein anderes, besseres Weltbild, als ich es damals hatte. Vielleicht ist das aber auch immer so bei den nachfolgenden Generationen, dass sie es besser machen. Trösten kann ich mich damit nicht, nur die Hoffnung für die Gesellschaft lässt mich das ein wenig bewahren. In all der Angst.
@westsideblogger ich weiß nicht, ob das hilft. Nach meinen Herzops hatte ich ein ähnliches Gefühl: in Afrika wäre (stand heute) schon 12 Jahre tot. Nach den OPs war das sehr präsent, ein befreundeter Arzt erzählte mir dann, dass das zum ersten Mal bei KZ Überlebenden beobachtet wurde und seitdem „Überlebenden-Syndrom“ heißt… Dafür einen Namen zu haben fand ich schon hilfreich