Utopia 2150 (aus 2013)

Ich möchte ihnen diese Geschichte erzählen, nein, ich muss sie ihnen erzählen. Diese Episode der Menschheit darf nicht verlorengehen. Das Jahr 2156 hatte für mich viele Überraschungen bereit. Aber auf diese eine war ich nicht gefasst. Niemand wäre auf diese Erlebnisse vorbereitet gewesen. Die Zeit wird knapp, fangen wir an!

Die Welt hatte sich in all den Jahrzehnten nach den globalen Niedergängen der Weltmärkte nie wieder richtig erholt. Noch immer versuchten die Mächtigen der Welt ihre alten Positionen neu durchzusetzen. Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen, sie hatten nichts gelernt. Aber warum auch? Die Völker waren befriedet, der Zusammenbruch und die darauf folgenden Katastrophen leisteten ganze Arbeit.

Ich selber konnte zu der Zeit nicht klagen. Als Beauftragter der RED, Regiert Europa Demokratisch, der einzig verbliebenden europäischen Regierung, reiste ich durch die Länder und suchte nach Verbündeten. So der offizielle Teil. Insgeheim sollten aber auch ehemalige Städte ausfindig gemacht werden, die sich nach dem Crash aus dem System verabschiedet hatten. Die RED hatte eine Art Wiedereingliederung für diese Bezirke aufgestellt. Die alte Macht sollte erneuert und verbessert werden.

Die Ressourcen waren damals knapper denn je, aber niemand machte sich gezielt an die Erforschung neuerer Techniken. Die früheren Strukturen und Netzwerke waren im Chaos untergegangen. Weitreichender waren aber die Folgen des Vertrauensverlustes. Nachdem die ersten Nahrungsmittel ausfielen, rotteten sich Banden zusammen und begannen ihre blutigen Feldzüge. Ganze Ortschaften wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die Menschen argwöhnten hinter jedem Gesicht einen Lootie, so nannte man die marodierenden Gangs bald.

Die Lage beruhigte sich zwar wieder, da es viele verantwortungsvolle Menschen gab, die sich den Looties entgegenstellten, aber die Angst blieb in den Köpfen der Menschen stecken. Ein rostiger Nagel aus Argwohn und Verlustangst. Das erkannte die RED im richtigen Augenblick und startete ihre Kampagne zur Zusammenführung der alten Welt. Und ich spielte dabei eine der ganz großen Rollen. Praktisch an vorderster Front.

Wir schrieben den 15.08.2156, als ich in dem kleinen Ort am ehemaligen Niederrhein ankam. Eigentlich wäre dieser Ort nicht weiter wichtig gewesen, aber die Antwort auf unsere Anfrage hin war dermaßen verstörend, dass ich beschloss, trotzdem einen kurzen Besuch dort vorzunehmen. Keine Komplikationen erwartend, fuhr ich ohne den sonst typischen Begleitschutz. So sparte ich der Regierung einige kostbare Ressourcen. Das würde sich zumindest am Jahresende wieder positiv in meiner Freundschaftsausschüttung auswirken. Negativ bemerkbar hingegen machten sich die mich begrüßenden Vertreter der Stadt. Sie waren keine Offiziellen und betonten immer wieder, sie seien Bürger und Menschen, wie alle anderen im Ort.

Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass ich bis dahin noch nichts von der Stadt zu sehen bekommen hatte. Das erste Treffen fand ein wenig außerhalb statt. Irgendetwas kam mir komisch vor, von der seltsamen Zusammenkunft ganz abgesehen. Ich sagte aber zuerst nichts und wartete einfach die weitere Entwicklung ab. Im Laufe eben dieser sollte ich zu dem Schluss kommen, dass hier alle vollkommen verrückt sind. Als Nächstes erwartete ich eine kurze Vorstellung ihrer Stadt und einen Rundgang zu den wichtigsten Punkten.

Ein junger Mann und eine junge Frau traten auf mich zu: „Wir wollen nicht unhöflich erscheinen, aber es ist nur zu ihrem Besten, wenn wir ihnen einige Erklärungen geben, bevor wir die Stadt betreten. Die letzten Jahrzehnte haben viel verändert. Deswegen sind sie hier, deswegen haben wir vieles zu erläutern.“ Ich nickte zustimmend und verzichtete um der lieben Zeit willen auf einen Kommentar. Die junge Frau sprach mit einer Überzeugung in der Stimme weiter, wie sie mir bereits bei den anderen aufgefallen war: „Sie kennen die Geschichte des großen Zusammenbruchs aus den Anfängen des Jahrtausends. Wir alle kennen sie. Die Folgen sind in der Welt draußen noch immer nicht abgestellt, die Menschen kämpfen um ihre Macht. Sie lösen sich von allem Menschlichen und begehen furchtbare Gewalttaten. Macht und Ressourcen-Hunger sind die Allianz für eine neue Schreckensherrschaft. Wir erkennen, schauen wir in die Welt außerhalb unserer Stadt, unzählige Unbelehrbare, die immerzu blind in die Fußstapfen ihrer gescheiterten Ahnen treten.“ Sie hielt inne, holte Luft und schaute mich erwartungsvoll an. Ich beschloss noch immer nichts zu sagen und ermunterte sie weiter zu machen.

Doch nun nahm der junge Mann den Faden wieder auf: „Unsere Ahnen waren anders. Sie erkannten, nachdem die halbe Stadt in Schutt und Asche lag, dass der Weg nur in den Abgrund führt. Einen tieferen Abgrund, als sich jeder Mensch vorstellen kann. Sie beschlossen, dies radikal zu ändern. Und wenn ich nun radikal sage, meine ich es auch. Der Ansatz unserer Ahnen hatte etwas schier verrücktes zur Grundlage. Ein Plan, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Geschweige denn, jemand wäre in der Lage gewesen, auch nur ansatzweise solche Gedanken zu denken. Denn, das ist die einzig wahre und zwingende Logik dahinter, sie hatten das Grundproblem in seiner ganzen Dimension verstanden. Sie machten sich an die Beseitigung vieler Probleme, um am Ende das zu erhalten, was sie heute hier vorfinden werden.«

Nun, ich hatte tatsächlich immer noch keine Ahnung, von was die Beiden hier sprachen und machte meinem Unmut auch Luft: „Schön, schön, aber warum erklären sie mir, dass ihre Ahnen das machten, was alle beschäftigte – ihre Stadt wieder aufbauen?“, fragte ich sichtlich ungeduldig. Die Frau legte sanft eine Hand auf meinen Arm, ich zuckte erschrocken zurück. Sie lächelte freundlich: „Sehen sie? Sie haben Angst vor dieser kleinen Berührung gehabt. Und nun versuchen sie zu ergründen, warum sie vor mir zurückgewichen sind. Dann haben sie die Antwort, warum unsere Ahnen eben nicht das taten, was alle taten.“ Ich dachte kurz nach und erwiderte: „Ich habe keine Angst vor ihnen, mir sind Berührungen einfach unangenehm. So verhält man sich nicht!“ Sie lächelte noch immer und ich sah plötzlich in ihren Augen, dass sie jung aussah, aber keinesfalls unerfahren sein konnte. Es brannte ein loderndes Feuer in ihren Augen. Mir wurde kurz warm.

Der junge Mann wandte sich mir wieder zu: „Ihre Reaktion ist typisch für die Menschen aus der alten Welt. Sie haben Angst. Nicht vor der Berührung selber. Viele Menschen sehnen sich geradezu nach einer intimen aber freundlichen und aufmunternden Berührung durch andere Menschen. Viel zu selten legen sich die Menschen gegenseitig die Arme auf die Schultern und freuen sich für den Anderen. Es ist aber nicht die Berührung. Es ist eine Urangst in uns, die allen Menschen zu eigen ist. Es ist die Angst vor dem Verlust. Die Berührung durch einen anderen findet in einer solch kurzen Distanz statt, dass wir durch die äußeren Einflüsse getrieben, sofort den Verlust irgendeines uns wert erscheinenden Etwas fürchten. Besitz, Status oder was immer gerade für wichtig erachtet wird. Unsere Ahnen haben dies erkannt und abgestellt.“ Ich starrte ihn an: „Sie wollen mir erzählen, ihre Ahnen hätten die Angst in allen Menschen der Stadt abgestellt. Einfach so?“ Ich empörte mich geradezu und fühlte mich ein wenig belogen.

Sie lächelten beide und erfüllten mich mit Wut. Dieses ständige Lächeln. Ich fühlte mich herabgesetzt, sie untergruben mit ihrem dummen und naiven Grinsen meine Autorität. Ich musste einschreiten. Doch halt. Ich sah genauer hin. Nicht dumm. Nicht naiv. Freundlich, aber wissend. Bestimmt, aber nicht arrogant. Innerlich schüttelte ich die Wut kurz ab und dachte nach. Warum erzürnte mich ihr Lächeln so? Ich wollte es herausfinden, wurde mir aber des Schweigens bewusst. „Ähm, nun gut. Nehmen wir an, sie haben das geschafft. Wie haben sie es hingekriegt?“

Ein älterer Mann aus der Gruppe trat zu uns und nickte meinen bisherigen Gesprächspartnern zu. „Lassen sie mich versuchen, ihnen diese Dinge ein wenig zu erläutern. Wir haben vorhin gehört, dass die Menschen sich schlimme Dinge antun, weil sie Angst haben. Das einfache Volk hatte nach dem Crash wahnsinnige Angst vor Hungersnöten, die Regierenden sahen ihre schwindende Macht und fürchteten sich vor dem Kontrollverlust. Dieses Dilemma zog sich durch alle Bereiche des Daseins. Menschen hätten ohne Nahrung, ohne ein Dach über dem Kopf, ohne notwendige Hilfsmittel, kurz gesagt, ohne die Dinge des täglichen Lebens in der Welt stehen können. Das Materielle bekam durch den Schwund der Werte eine beschleunigte Bedeutung und alles klammerte sich an die alten Muster. Wir ließen nicht los. Da kam die Idee auf, den Menschen doch alle lebensnotwendigen Dinge zur Verfügung zu stellen. Durch ein System, dass sich von selber trägt. Keine Steuern, kein Geldfluss, da Geld letztlich keinen Sinn mehr machte. Der alte Stadtrat rief seine Bauern um Hilfe an. Umliegende Höfe wurden in den Plan eingeweiht, man schmiedete einen Plan und schloss einen Pakt mit den Bauern. Die Bauern sollten ihre Produktion umstellen. Die Stadt schickte Material und Ingenieure, die Bauern ließen das wichtige Wissen zur Landwirtschaft einfließen. Der Punkt war, dass die Stadtväter von damals den Menschen die Existenzangst nehmen wollten. Denn diese hatten sie als den Urheber von über 90% aller Kriminaldelikte nach dem Crash identifiziert. Als ersten Punkt auf ihrer noch sehr jungen Agenda stand die grundlegende Versorgung mit Nahrung. Nach nur zwei Jahren hatten es die Bauern und Ingenieure geschafft. Die Stadt konnte den Bürgern alle Grundnahrungsmittel kostenfrei zur Verfügung stellen. Im Ergebnis sank die Kriminalitätsrate um 45% – das war genau der Erfolg, den man sich erhoffte! Die Urahnen gingen aber noch weiter.“

Mir schwirrte es im Kopf. Ich hatte es einwandfrei mit Verrückten zu tun. Kein Mensch mit Verstand würde einfach Nahrungsmittel in die Welt kippen, ohne einen Wert zurückzufordern. Mir war bis dahin kein einziges Modell der Marktwirtschaft bekannt, das sich mit einem solchen Irrsinn beschäftigte. „Und nun wollen sie mir sicherlich erzählen, dass die Bauern das alles ohne Gegenleistung taten?“, blaffte ich die Gruppe an. „Niemand hat in dieser Welt etwas zu verschenken, Landwirte schon mal gar nicht. Wollen sie mich für dumm verkaufen? Wie soll es denn weitergehen? Die Menschen haben nun Nahrung. Und was hatten die Ingenieure damit zu tun? Die Landwirte waren doch schon vorher in der Lage ihre Felder zu bestellen.“ Ich schaute Zustimmung heischend in die Augen der Personen um mich herum. Nichts änderte sich an ihrem Verhalten mir gegenüber. Sie lächelten mich freundlich an und ließen sich durch meine Äußerungen nicht aus der Ruhe bringen.

„Das Modell ihrer Marktwirtschaft, egal welches, hat seine Existenzberechtigung mit dem Crash verloren. Es brachte die Looties hervor, es säte Gewalt, noch mehr Angst und aus der Saat wuchsen Friedhöfe. Dunkelheit und Verlust aller Kontrolle waren die Ernten, die sie einfuhren. Damals. Was unsere Stadtväter von damals versuchten, war ein historisch einmaliger Ansatz, allen Problemen der Menschen nach und nach eine Lösung zu bieten. Angefangen mit der Nahrung, machten sich die Ingenieure daran, die Maschinen zu perfektionieren. Die Bauern waren die Ersten, die in den Genuss der neu entstehenden Technik kamen. Es gab plötzlich Höfe, die funktionierten fast automatisch. In einer Art und Weise, die sie sich nicht vorstellen können. Kein Trecker musste mehr über die Felder gelenkt, keine Kuh an die Melkmaschinen angeschlossen, kein Stall manuell gesäubert und kein Tier von Hand gefüttert werden. Einzig die Schlachtungen, die führten die Bauern selber durch. Zwar mit größtmöglicher Automation, aber das Sterben der Tiere wurde von den Landwirten begleitet. Die Ingenieure hatten wahnwitzige Ideen umgesetzt. Mit ihnen, Landwirten und Ingenieuren, erwuchs eine vollkommen neue Betrachtungsweise der Technik: »Der Nutzen, den man aus perfektionierten Maschinen ziehen konnte, wenn im Plan als Ziel geschrieben stand, dass kein Mensch mehr der Sklave einer Arbeit sein soll, die einzig der Maximierung von Gewinnen gewidmet ist.« Die Alten brachten ein Manifest auf den Weg, welches bis heute immer wieder verbessert wurde. Die Angst vor Veränderungen, die kann den Menschen auch genommen werden, wenn man sie involviert. Wenn sie Teil des Ganzen sind. Wenn sie jede Entscheidung mittragen. Von Anfang an war den Vätern klar, am Ende würde niemand mehr einer Arbeit nachgehen, die von Dividenden, Aktien und Portfolios bestimmt wurde. Es würde einfach keine Notwendigkeit mehr bestehen. Wieder ein wahnwitziger Gedanke, aber auch dieser wurde umgesetzt. Zwar erst später, aber es klappte.“

Ich atmete schwer. Diese Irren hier versuchten mir nun aufzutischen, dass sie kostenlos Nahrungsmittel ausgaben und niemand mehr die Notwendigkeit hatte zu arbeiten? Ich schüttelte energisch den Kopf. „Liebe Leute,“ versuchte ich es im Guten, „wo soll das denn hinführen? Wie finanziert sich so etwas denn? Wer kommt dafür auf?“ Ich ließ Maschinengewehrsalven von meinen Fragen auf die Gruppe los. Sie ertrugen es geduldig und schwankten nicht eine Sekunde.

Die junge Frau blickte mich an. Lächelnd. Mir fiel plötzlich auf, dass von dieser Gruppe überhaupt keine Aggression ausging. Sie waren ruhig, in sich vollkommen sicher und, fast weigerte sich der Gedanke gedacht zu werden, ohne jede Angst. Immerhin konnte ich über ihr Schicksal entscheiden, als Gesandter der RED. Doch sie erschienen so unbekümmert, ja gradezu frei zu sein, dass nichts auf der Welt ihnen etwas anhaben konnte.

„Die Perfektion der Maschine. Nicht in ihrer Funktion, sondern in ihrem Nutzen für den Menschen. Wenn sie dies erreicht haben, können sie anfangen und all das umsetzen. Wir, das heißt unsere Ahnen, schlossen anfänglich den Pakt mit Landwirten und Ingenieuren. Danach gingen sie auf die Bevölkerung zu. Sie gaben ihnen Nahrung, die Grundversorgung. Man ließ nach und nach von allem Materiellen los. Alle Menschen in der Stadt sollten die gleichen Lebensbedingungen vorfinden. Gleiche Chancen für alle. Dies konnte nur erreicht werden, wenn die Menschen nicht jeden Tag die meiste Zeit in Fabriken oder Büros zubrachten. Die Befreiung des Arbeiters vom Müssen. Die Befreiung vom Mietzins. Die Befreiung von Steuern. Die grundlegende Änderung eines kaputten Bildungssystems. Lassen sie mich ihnen versichern, dass all das, und vieles mehr, unseren Stadtvätern damals eingefallen ist, sie haben es niedergeschrieben und die nachfolgenden Generationen haben weiter gemacht. Die Menschen hatten erkannt, dass dies der richtige Weg war. Nach den Grundbedürfnissen wurde nicht halt gemacht. Die Menschen trieben mit ständigen Verbesserungen die Entwicklung weiter voran. Unsere Versorgungstechnik in der Stadt ist technisch auf dem höchsten Stand, kann aber, weil sie dem Menschen nutzen soll, von praktisch jedem Bürger der Stadt bedient werden. Damit ist sichergestellt, dass Defekte oder notwendige Inspektionen nicht nur von Spezialisten durchgeführt werden können. Wir haben unser System so aufgebaut, dass von Kindesbeinen an die Funktionsweise der Gesellschaft, der Technik und der weiteren Entwicklung verstanden wird. Egal welchen Weg ein junger Mensch gehen möchte, die Basis ist immer abgedeckt. Ob sie nun Biologe, Architekt oder Physiker werden wollen, es steht alles offen. Mit dem offenen System haben wir es in den letzten 8 Jahrzehnten geschafft, dass jedes Kind am Ende zu einem Studium greift.“

Sie schauten mich an. Ich grinste irr zurück. Verstand? Wo war mein Verstand geblieben? Warum hörte ich mir diesen Mist an? Ja, es hörte sich verheißungsvoll an. Sehnsüchte wurden in mir geweckt, die ich vorher nicht kannte. Ich sah mich im Auftrag der RED mit Menschen reden, denen ich Versprechungen machte, von denen klar war, sie würden niemals eingehalten werden können. Und hier traf ich auf das vollkommene Gegenteil. Bei all dem wurde mir bewusst, dass nicht einmal das Wort Religion gefallen war. Dieser Aspekt machte mich neugierig. Da stand scheinbar ein Heer von Technokraten vor mir, aber der Glaube an Götter würde sie Lüge strafen. Ich fragte offen und direkt nach. Götter, gab es diese hier noch?

„Die alten Religionen“, erklärte der junge Mann zu dem Thema, „sind eben alt. Sie waren eng mit dem Wertesystem verwoben. Als dieses zusammenbrach, verloren die hungernden Propheten mehr als den Glauben in ihre Götter. Während die Menschen bibbernd und hungernd in den Kirchen saßen, stiegen die Büttel der hohen Geister in die Wohnungen ein und bemächtigten sich der letzten Habe. Nein, auf unserem Weg steht die Religion nicht mehr zur Debatte. Sie ist über. Aber nicht aus irgendeinem Eigennutz der Menschen, sondern, weil man sich aus Angst an die unsichtbaren Wesen wandte. Mit dem Sieg über die Angst der Menschen, hatte sich das Thema Religion auch erledigt. Auch die Angst vor dem Sterben ist nicht mehr vorhanden. Ein Mensch, der ein Leben ohne Angst führen konnte, der viel Zeit mit Muße und Verwirklichung verbrachte, hat am Ende seines Lebens nichts zu fürchten. Aus diesem Grund haben wir keine Altersheime oder große Krankenhäuser, wie sie früher üblich waren. Wir geleiten unsere Alten ehrenvoll hinüber. Lebensverlängernde Maßnahmen gibt es nicht bei uns. Es gibt aber auch kaum tödliche Krankheiten, die einen Menschen in der Blüte seiner Jahre hinwegraffen. Und wenn jemand gehen möchte, weil er das Gefühl hat, er hat alles getan und alles erledigt, so soll er gehen. Wir stellen dies nicht an den moralischen Pranger. Früher sprach man von Verantwortung der Menschen, die sie tragen müssten. Unsere Gesellschaft ist stark und warum die Schultern einzelner belasten, wenn das Gewicht für alle besser verteilt werden kann? Die Menschen kümmern sich um Menschen. Und dies tun sie, weil sie dafür die Lebenszeit zurückerhalten haben und weil sie nichts fürchten müssen. Unsere Einschnitte insgesamt sind so tiefgreifend, dass wir noch lange nicht am Ende der Entwicklung angekommen sind. Nein, vielmehr wird es so sein, dass sich die Gesellschaft immer verändern wird, sie muss es einfach. Um bestehen zu können. So bringen wir nach und nach alle Veränderungen gemeinsam ein. Die Gesellschaft bestimmt über die Entwicklung, nicht ein Markt, die Technik oder imaginäre Gewinnspannen.“

Später in der Stadt sah ich es. Sie hatten nicht gelogen. Die Technik war zum maximalen Nutzen für den Menschen herangereift. Aber nur, weil niemand einen eigennützigen Gewinn aus dem Unternehmen „Utopia“ ziehen wollte. Weil man die Menschen als Menschen verstand. Man nahm sich der Ängste an, beseitigte diese, stellte die Versorgung mit allen möglichen Dingen sicher und gab den Menschen die Muße des Lebens zurück. Die Vernetzung über alle Wohnbereiche ermöglichte die Kommunikation der Einwohner bei wichtigen Entscheidungen. Es gab keine Stadtväter mehr, Verbesserungen ergaben sich immer aus der Gemeinschaft heraus. Jeder Schulabsolvent hatte Stimmrecht, jeder konnte Vorschläge machen, und alle gemeinsam stimmten sie über die anzugehenden Projekte ab.

Ich habe dies so niedergeschrieben, damit es nicht vergessen wird. Denn außerhalb unserer Stadt formieren sich die Märkte neu. Immobilien, Ressourcen und Edelmetalle sind wieder hoch im Kurs. Sie wissen noch nicht von uns. Ich blieb in der Stadt und legte für meine Auftraggeber eine falsche Spur. Seitdem lebe ich frei von Ängsten. Wir haben hier auch keine Angst vor den Märkten draußen, es sind die Ängste der Menschen, die uns verunsichern. Es erscheint fraglich, ob wir Wenigen es schaffen können, sie dahin zu bringen, wo wir nun sind. In ein freies Leben – befreit von Sachzwängen und materiellen Besitzansprüchen. Wir gehen davon aus, dass unsere Technik für andere Zwecke eingesetzt werden wird. Aber noch hält unser Schutzschirm sie ab, noch können sie uns nicht sehen.

Positionen

Ich versuche hier eine akzeptable Position zu finden. Eine, mit der ich, das Papier und die Tinte zurecht kommen. Es ist nicht einfach etwas auf das Papier zu bringen, wenn der eigene Schatten der Hand die Schrift verdeckt, die Spitze des Füllfederhalter in sich aufnimmt und das Werk nur erahnt werden kann.

Das ist der Nachteil dieser modernen Schreibtischlampe. Sie leuchtet nur einen kleinen Teilbereich schattenfrei aus. Ihr Spot möchte sich auf das naheliegende konzentrieren, aber meine Hand ist halt nicht das, was ich sehen möchte. Ich möchte das sehen, was im Schatten halb verborgen liegt. Dafür muss ich die Lampe hin und her rücken, ihr den Hals verbiegen, an dem der kleine Spot angebracht ist, um endlich zu sehen, was Kopf, Hand, Feder und Tinte auf das Papier fließen lassen.

Damit das einwandfrei funktioniert, steht sie nun beinahe an meiner Nase und leuchtet von der linken Seite das Papier aus. Das ist soweit ganz gut, aber unter einer ordentlichen Sichtfläche verstehe ich etwas anderes. Denn je weiter die Hand mit dem Text nach unten wandert, desto mehr Text gewordene Gedanken verschwinden oben wieder in den Schatten.

Ich fühle mich dabei wie einer dieser Schreiberlinge, die ihre Pamphlete in dunklen Kammern unter dem Dach, im Schein rußender, stinkender Kerzen verfassen mussten. Doch deren Problem damals war gewiss nicht die Position der Kerze, sondern die politische Position, die sie vertraten und in Traktaten auf Papier brachten.

Anders als diese, habe ich heute nicht zu befürchten, wegen der Offenlegung meiner eigenen Position am Galgen zu enden. Ich schiebe hier nur die Lampe hin und her und leuchte das Papier bestmöglich aus. So wie die Positionen der einfachen Antwortgeber heutzutage. Man muss sie ausleuchten, hinterfragen und mit der Wahrheit aus den Schatten treiben.

Von der Flamme der Kerzen hat sicherlich mal das eine oder andere Papier gebrannt, innere Hitze hat manchen Verteidiger der Freiheit an den Galgen gebracht, doch erst die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus hat es fertig gebracht, innerhalb einer aufgeklärten Gesellschaft Menschen zu Millionen zu entrechten, verschleppen und am Ende zu ermorden. Vieles lag daran, dass die Positionen nicht klar bezogen wurden, die Schatten zu lange nicht ausgeleuchtet waren und wir uns als Gesellschaft damit zufrieden erklärten. Dann brannten die Bücher und mit ihnen die Freiheit als Gedanke in den Köpfen.

Damit das nicht wieder passiert müssen wir unsere kleinen Lampen zusammenbringen, sie gemeinsam in die dunklen Ecken scheinen lassen und die Positionen der sogenannten Patrioten, besorgten Bürgern und deren Vordenkern, sichtbar machen.

Keinen Fußbreit den Nazis.

Von Hühnern und Plänen

Vor etwas mehr als einem Jahr schmiedeten wir den Plan, nach den Bienen auch Hühner zu halten. Hühner, so lasen wir, sind im Grunde sehr einfach zu halten. Ein befreundeter Züchter gab hier und dort auch noch ein paar praktische Tipps. Dann fühlten wir uns bereit und fingen ganz naiv an.

Zuerst beschafften wir uns einen Stall Wir wollten drei Hühner. Der Stall ist für bis zu sechs ausgelegt, was ich allerdings angesichts der Platzverhältnisse für nicht machbar halte. Weiterhin wurde ein mobiler Zaun gekauft. Ich glaube, der hat ca. 80 Meter, bin ich mir heute aber nicht mehr 100% sicher. Der Zaun kam in einem großen Radius um den Stall und sollte das scharrende Vieh im Auslauf begrenzen.

Auf einer Hühnerfarm bei Duisburg kauften wir dann drei Hühner. Ein Leghorn und zwei Sussex. Das Leghorn, so sagte der Züchter uns, sei in der Regel aktiver und frecher als die beiden Sussex. Sussex gelten als Anfängerhühner. Auch legt das Leghorn im Schnitt mehr Eier im Jahr. Tatsächlich legt es wirklich mehr Eier. Aufgrund seiner ständigen Aufgeregtheit nennen wir es das „ADHS-Huhn“.

Am Tag 1 waren wir aufgeregter als die Hühner. Die hatten sich nach ca. 2h an ihre neue Heimat gewöhnt und guckten sich alles in Ruhe an. Nach 2 Tagen flatterte das Leghorn das erste Mal über den Zaun. Nach 4 Tagen fanden die anderen beiden heraus, wie man aus dem Gehege ausbrechen konnte. Ich schaute meine Frau an und sagte: „Es wird so kommen, dass du deine Beete abdecken wirst und der Zaun verschwindet.“ Sie lachte. Noch.

Nach 14 Tagen gab sie auf und schaffte den Zaun ab. Es war immens mühselig ständig die Flüchtlinge einzufangen. Seitdem laufen die drei Damen glücklich und frei durch den kompletten Garten. Bei knapp 1800qm haben sie da auch was zu gucken. Am liebsten sind sie in den Gebüschen unter den Bäumen.

Der Plan, ein gezieltes Gehege zu schaffen, ging fürchterlich schief. Die Hühner kommen überall hin, sie folgen uns und sie sind zutraulich. Wenn wir den Arm hinhalten, springen sie wie auf eine Stange darauf. Manchmal will auch eins auf den Schoß, wenn wir gerade auf der Terrasse sitzen. Außer das ADHS-Huhn, das ist ein richtiger Angsthase. Dafür springt es wagemutig von der Terrasse nach unten und flattert dabei wild. (Wir wohnen Hochparterre.)

Es ist spaßig mit ihnen und keiner hier will Hühner missen. Vor allem weil wir seitdem kein einziges Ei mehr gekauft haben. Mittlerweile meiden wir auch Eier in z.B. Restaurants oder beim Frühstück im Hotel. Da sind wir jetzt sehr verwöhnt. Der Plan mit den eigenen Eiern ist damit voll aufgegangen.

Lesen

In der letzten Nacht las ich ein Buch in einem Rutsch durch. Es war nicht besonders lang, ca. 180 Seiten, teilweise nicht ganz beschrieben. Trotzdem eine Distanz, die ich in den vergangenen Monaten nicht geschafft hatte. Meistens war nach spätestens 20 Seiten schon Schluss. Nach gestern glaube ich die Gründe dafür zu kennen.

Vor etwas mehr als 6 Monaten kaufte ich mir, nach langer Verweigerungsphase, einen E-Reader. Das vollgestopfte Bücherregal und die immer dicker werdenden Taschen auf Reisen, rangen mir den Kauf ab. Und ja, ich war verwundert bis begeistert, wie dieses kleine Ding angenehm zu lesen war. In der Nacht brauchte ich kein extra Leselicht, es lagen nicht mehr diverse Bücher auf dem Nachtschrank.

Doch dann fingen die Dinge an sich zu verändern. In den digitalen Werken fanden sich zu Haufe Fehler. Teilweise hatte ich das Gefühl, die Texte seien vor dem Korrekturlesen bereits veräußert worden. Fehler in Büchern ärgern mich ungemein. Aus Büchern lerne ich Wörter die meinen Wortschatz erweitern. Wenn diese dann falsch geschrieben sind, ist das umso ärgerlicher.Auch fing ich an diverse Bücher parallel zu lesen. Einfach weil es ging. Die Aufmerksamkeitsspanne sackte rapide ab.

Gestern aber nahm ich ein echtes Buch aus Papier mit Hardcover-Einband in die Hand. Es war nicht aus einer anderen Sprache übersetzt und glänzte im Rhythmus der Erzählkunst des Autors. Es roch druckfrisch und knisterte leise beim Umblättern, während sich die Buchstaben im satten Schwarz auf den chamoisfarbenen Seiten präsentierten. Die eigene Welt wurde in die Zeilen gesogen, aufgenommen, als wenn die Nacht und ich ein Teil all dessen gewesen wären.

Und kein Warnhinweis erinnerte an den bald erschöpften Akku.

Scharren

Scharren, picken, scharren, picken… So geht es den ganzen Tag da draußen, seit dem wir die drei Hühner angeschafft haben. Und das war sicher nicht die schlechteste Idee, die wir hatten. Sie sind im Grunde sehr pflegeleicht. Natürlich muss man den Stall säubern. Das machen wir täglich. Ist dann auch keine Arbeit. Altes Stroh raus, Hühnerkacke die nicht im Stroh liegt abkratzen, neues Stroh rein.

Im Sommer haben wir auf die Schublade unter den Stangen Zeitung gelegt. Aber im Winter ist so ein Haufen Stroh sicherlich bequemer und wärmer. Je nach Temperatur legen sich die Drei aneinander gekuschelt in das Stroh. Bis die Sonne aufgeht, dann wird es laut im Stall. Sie wissen ganz genau wie man sich verständlich macht. Einer von uns steht dann auf, öffnet die Stalltür und füllt Futter nach.

Dann geht so weiter: Heidi, das ist eines der Sussex-Hühner, rennt in das neu auserkorene Nest und legt ein Ei. Die anderen laufen derweil umher und suchen die feuchte Wiese nach weiteren Leckereien ab. Danach geht dann entweder Colette oder Rosalie in das selbe Nest und legt ein Ei. Rosalie ist ein Leghorn. Laut Züchter legt diese Rasse mehr Eier als die beiden Sussex. Das können wir so bestätigen. Sie ist früher angefangen und legt im Schnitt einfach mehr Eier. Die beiden Sussex machen schon mal Pause.

Lustig ist es, wenn die drei Damen sich ein neues Nest suchen. Wir haben dafür auch knapp 2000 Quadratmeter zur Verfügung… Vieles davon ist mit Gebüschen und Bäumen bewachsen. Im Unterholz nach Eiern zu suchen, ist wie mehrfach im Jahr Ostern zu haben. Manchmal finden wir tagelang keine Eier, aber dann plötzlich eine Stelle mit 12 oder mehr Eiern. Das kommt in der Form zum Glück selten vor.

Es ist aber schon so, dass wir die Eier nicht alleine verbrauchen können. Der ältere Herr von gegenüber kommt ganz oft an den Zaun, ruft die Hühner und schmeißt etwas für sie rüber. Der kriegt regelmäßig das eine oder andere Ei für sich und seine Frau. Er hatte in jungen Jahren selber 150 Hühner auf seinem Hof. Er kann auch gute Tips aus seiner Erfahrung geben.

Die Hühner rennen den ganzen Tag frei umher. Dabei sind natürlich auch ein paar der Kräuter dem unstillbaren Hunger zum Opfer gefallen. Basilikum ist wohl nicht nur gesund, sondern auch beliebt. Im Sommer findet eine halbe Melone regen Anklang und auch Paprika werden nicht verachtet. Letztens habe ich festgestellt, dass getrocknete Datteln großartig sind.

Das ist Colette:
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Das ist Rosalie:
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Und nun Heidi:
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Der Tag des Einzugs in den neuen Stall:
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Neugieriges Gucken:
Hühner am Stall

Grün

Bei der letzen Landtagswahl waren die Grünen die großen Gewinner. Auch in Hessen zeichnet sich ein super Ergebnis ab. Warum wählen die Menschen plötzlich die Grünen?

Nein, keine Angst, ich habe nicht das Durchhaltevermögen für eine Analyse, die dann sicherlich keinerlei faktenbasierender Auseinandersetzung standhalten wird. Vielmehr ist es einfach nur meine persönliche, naive Meinung, dass hier das kleinste aller Übel gewählt wird.

Halt! Ich will weder die Grünen noch ihr Ergebnis klein oder schlecht reden. Es geht auch gar nicht um deren Politik. Vielmehr denke ich, dass viele Menschen einfach die Schnauze von SPD und CDU voll haben. Anfänglich wollten viele von denen vielleicht mit der AfD abstrafen. Aber das ist sicherlich den meisten Wählern nach der Aufstellung in den äußersten rechten Rand, nicht mehr möglich.

Was also tun? Ein „weiter so“ ist nicht genug, Neoliberalismus verpönt,  Nationalsozialismus geht gar nicht und die Linken sind im Grunde keine wirkliche Option. Bleiben also im Grunde nur die Grünen, will man seine Stimme nicht in den Orkus werfen.

Noch mal: Ich will nichts schlecht machen. Es ist nur ein naiver Erklärungsversuch, warum es ist, wie es jetzt ist.

Wenn meine Überlegung irgendein Körnchen Wahrheit beinhaltet, kann die ganze Kiste schneller kippen, als wir Kreuze auf unsere Stimmzettel machen.

 

Streitgespräche

Auf Seite 5 der aktuellen Print-Ausgabe von „Die Zeit“ geht es in einem kurzen Artikel über die Streitkultur im Netz. Es wird über den Rückzug zweier Politikerinnen aus Facebook berichtet. Die beiden sind mit dem Medium Internet „groß“ geworden, umso mehr fragt sich der Autor, wie wir denn noch im Netz diskutieren und streiten können. Die unfassbare Anzahl von Hassnachrichten und Morddrohungen hat sie die Entscheidung treffen lassen.

Ich bin mir unsicher, ob es überhaupt eine Streitkultur in einem mehr oder weniger anonymen Umfeld geben kann. Der Rand wird laut, wenn er sich geschützt und unerkannt äußern kann. Selbst die Partei, die sich genau so aufbauen wollte, ist damals an der internen Streitkultur mehr oder weniger zerbrochen.

Weiterhin halte ich es für kritisch seinen Standpunkt innerhalb von Internet-Plattformen zu reflektieren. Die Gefahr, dass man sich in einer noch intensiveren, fokussierteren Filterblase als in seinem Familien- und Freundeskreis befindet, ist groß. Wenn eine Meinung nicht genehm ist, kann man sich im Schutze der Anonymität entfreunden, entfolgen oder einfach muten.

Diskutiere ich mit meinen Verwandten und Freunden, kann ich mich der Meinung der Anderen nicht einfach entziehen. Und wir haben hier schon viele, viele Streitgespräche geführt. Die Meinungen innerhalb des Freundeskreises sind nie gleich. So kenne ich das zumindest. Deswegen gibt es für mich keinerlei Grund, auch nur ansatzweise im Internet über die großen Fragen unseres Lebens, unserer Gesellschaft zu streiten, zu diskutieren. Frühere Versuche endeten alle ohne weitere Erkenntnisse.

Der Autor des Artikels in „Die Zeit“ fragt auch, wo wir uns denn noch streiten können. Na, ganz einfach. Im direkten Umfeld mit der Familie, mit den Freunden. Und mit einer durch weiteres Wissen ausgebauten und gefestigten Meinung, kann man Stück für Stück weitere Menschen abholen (oder mit ihnen streiten). Aber wahrscheinlich nicht auf Facebook, Twitter oder Instagram.

Sicherheit

Seit gestern ist sie wieder in aller Munde, die so oft bemühte Sicherheit. Immer dann, wenn etwas passiert, was außerhalb unserer eigenen Kontrolle geschieht, fühlen wir uns nicht mehr sicher. Es ist dabei so ziemlich egal was das genau ist. Gestern war es eben diese Geiselnahme in Köln.

Heute wird gefragt, ob denn unsere Bahnhöfe sicher seien. Ich kriege bei solchen Fragen immer Stirnfalten und eine zuckende Augenbraue. Natürlich sind sie nicht sicher. Die Architekten haben vielleicht alles getan, um das Unfallrisiko zu minimieren, aber gegen die Tat eines Menschen ist es schwierig alles abzusichern.

Deswegen ist es nirgends „sicher“. Wenn die Regierung und ihre Minister etwas von: „Wir müssen den Menschen Sicherheit garantieren und bieten“, dann würde ich sie gerne auf diesen Anspruch verklagen. Diese Garantie besteht allerdings nicht aus tatsächlicher physischer Sicherheit, sondern mündet meistens in irgendwelchen Überwachungssystemen. Der Grund ist einfach: Sicherheit kann nicht garantiert werden.

Sicherheit ist ein Gefühl, dass wir selber in einer uns angenehmen Umgebung fühlen. Zu Hause bei der Familie zum Beispiel. Auf einem Spielplatz mit spielenden Kindern. Aber selbst da haben Eltern mit Helikopter-Syndrom schon so ihre Schwierigkeiten. Ich persönlich betrete z.B. kein Fußballstadion. Das ist einfach nur eine Art der Risikominimierung für mich persönlich. Nicht aus Angst vor Anschlägen, sondern wegen der latenten Gewaltbereitschaft gewisser Fangruppierungen. Ich muss mich dem nicht aussetzen.

Aber jetzt wird man sicher wieder über Videoüberwachung, Eingangskontrollen, Gesichtserkennung usw… diskutieren. Selbst wenn man uns alle in vorbeugende Sicherheitsverwahrung nehmen würde, mit der nächsten Naturkatastrophe wäre diese Sicherheit wieder dahin. Wie viel Sicherheit jemand empfinden muss und welchen Risiken er sich aussetzt, entscheidet letztlich jeder selber.

Zum Begriff der Sicherheit lohnt sich ein Blick zur Bundeszentrale für politische Bildung.