Eltern und Kinder

Eltern und Kinder

Seit dem ich im Home Office viel auf der Terrasse arbeiten kann kriege ich auch viel von dem mit, was so in der Nachbarschaft abläuft. Es gibt da lustige Dinge, es gibt anstrengende Dinge und es gibt diese Dinge, die mich unendlich wütend machen.

Um uns herum wohnen viele Familien mit Kindern. Einige Schulkinder, andere sind Kleinkinder, wieder andere im Kindergartenalter. Selbstverständlich ist es da laut, wenn die Nachmittags, bzw. morgens in den Ferien, in den Höfen und Einfahrten spielen. Spielende Kinder sind etwas schönes und sollten dazu auch die Möglichkeiten haben. In unserer Straße, einer Spielstraße, ist es zum Glück so. Das sind die schönen Dinge. Die weniger schönen haben grundsätzlich mit den Eltern der Kinder zu tun.

So zum Beispiel der Nachbar auf der rechten Seite, der seine Tochter grundsätzlich mit „Eyh!“ anschreit, so wie seine Hunde und seine Frau. Dann wundern sie beide sich, dass die Tochter in einer Tour laut brüllend ihre Meinung kund tut. Die Tochter ist auch die, die seit diesem Jahr in den Kindergarten geht. Der ist 150 Meter von hier entfernt und die Mutter fährt sie mit dem Auto dahin. Ich frage mich, was für eine Art Mensch das später sein soll, der da aufwächst.

Gegenüber sind neue Leute eingezogen. Anfänglich war alles super, sie haben das Haus renoviert und viel daran gemacht. Der Mann hatte wohl Pandemie bedingt auch Home Office. Jetzt ist er wieder arbeiten und die Frau brüllt jeden Morgen ihr Kindergartenkind zusammen. Das Kind schreit, sie brüllt zurück, brüllt ihr die Schuld für das angebliche Zuspätkommen ins Gesicht, das Kind weint, sie schreit es bis ins Auto. Heute früh hat sie sich komplett demaskiert in dem sie in ein hysterisches Geschreie verfallen ist. Was soll das werden?

Ich habe heute gezwungenermaßen zugehört (wie der Rest der Straße sicherlich auch) und tief in mich hineingeschaut. Nein, ich habe meine Kinder nie angeschrien. Schon gar nicht so. Die älteste Tochter ist mittlerweile 30 Jahre, die Jüngste wird bald 13. Denn Sinn eines Wutausbruches als Erwachsener bei einem Kind habe ich nie verstanden. Wenn ich jemanden anschreie oder in Grund und Boden brülle, macht das nichts besser und das Signal ist so falsch wie nur etwas falsch sein kann.

Vielleicht sind wir hier mit unserer Art und Weise nah an dem was Antiautoritär genannt wird. Ich bin aber der Meinung, dass das Heranwachsen eines Kindes viel komplexer ist, als dass wir dafür einfache Begriffe hernehmen könnten. Auch Erziehung ist so ein Wort, bei dem ich nicht weiß, ob es richtig ist. Für mich steckt da das Wort „ziehen“ drin. Ich möchte nicht einen Menschen in eine Richtung ziehen, von der ich denke sie ist richtig. Ich möchte, dass sich der Mensch in eine Richtung entwickelt, die für ihn die richtige ist. Dabei kann ich unterstützen, vertrauen und respektieren. Aber ziehen? Nein, das erscheint mir falsch. Brüllen und klein machen am allerfalschesten.

Wasser kennt keine Langeweile

Spiegelung in der Wassertonne

Weil gerade das Wasser nur in Tröpfchen aus den Leitungen kommt, schaue ich den Wasserstand in den Wassertonnen nach. Dann fällt mir ein, dass auch die Grundwasserpumpe defekt ist und wir eine neue installieren müssen. Ungefähr 8-9 kranke Bäume gibt auf dem Grundstück die gefällt werden müssen. Sie haben die heißen Tage der letzten Jahre nicht überlebt. Sind alles Nadelbäume. Den Laubbäumen geht es weitestgehend gut. Die Einfahrt muss gemacht werden; entweder neuer Kies oder die ersten Meter mit Platten auslegen. Entlang der Straße müssen die Hecke und überstehende Äste der Bäume beschnitten werden. Auf dem Grundstück hat sich die Brombeere ausgebreitet, das wird lustig. Immerhin haben wir jetzt viel Marmelade und Fruchtquark…

Es gibt viel zu tun. Langeweile? Ha!

Ruhe

Innere Ruhe. Verinnerlichte Ruhe. Gelebte Ruhe. Einfach nur Ruhe. Ohne Stress. Ruhig auf das Leben blicken können ist ein Privileg. Ich kann das erst jetzt genießen. In den letzten Jahren war mir das wohl nicht möglich, sonst würde mir jetzt nicht so auffallen, wie ruhig ich tief in mir bin. Seit Monaten habe ich nicht mit dem Auto fahren müssen. Gut, einmal zur großen Tochter über die Autobahn für 80 Kilometer. Ansonsten keinen Meter. Es ist mir geradeso, als wenn all das einfach abgefallen wäre, seit dem ich nicht mehr regelmäßig über die Straßen und Autobahnen fahren muss.

Bisher hielt ich mich auch für einen Fahrer, den weder Stau noch andere Störungen auf der Straße groß etwas anhaben könnten. Schon aus dem Grund, dass ich seit knapp 20 Jahren viel fahren muss und mir einige Erfahrung zur Verfügung steht. Aber jetzt merke ich, was das bisher mit mir gemacht hat. Ständige Anspannung, immer konzentriert auf die Straße achten, hohe Geschwindigkeiten (von anderen Verkehrsteilnehmern) und der Kopf ist immer eingeschaltet. Da nützen die Hörbücher nichts und Nachrichten sind ja auch nicht immer nur voller freudiger Ereignisse.

Wenn ich heute hier sitze und mich über die Scheibe Käse ärgere, die ich nicht richtig auf das Brot gelegt habe (das ist ein plastisches Beispiel), dann ist es nur allzu deutlich, was die Fahrerei mit mir persönlich gemacht hat. Was ganz klar für mich bedeutet, dass ich alles daran setzen muss, diese Ruhe zu bewahren. Den Zustand zu halten. Was in der Konsequenz bedeutet, dass ich auf gar keinen Fall wieder dieses Pensum auf der Straße abreißen will. Und vielleicht muss ich das auch gar nicht mehr.

Natürlich gibt es neben dem Autofahren noch andere Dinge, die auch Stress verursacht haben und verursachen werden. Doch bin ich fest davon überzeugt, dass das Fahren auf unseren Straßen der größte Anteil am Stresslevel ist.

Fußhupe

Fußhupe, so nennen wir seit vorgestern Nacht unsere Gasthündin. Die befreundete Familie ist in Frankreich, wir haben dieses winzige, nervöse und nervtötende Hundetier für die Woche zur Pflege übernommen. Eigentlich sollte Ella im Wohnzimmer in ihrem Körbchen schlafen. Aber wie es nun einmal mit Tieren so ist, haben sie wenig Verständnis für unsere Belange. In der besagten Nacht also, stand die Pflegemutter auf und trat prompt auf den neben dem Bett schlafenden Hund. Die Fußhupe machte ihrem Namen aller Ehren.

So klein Ella auch ist, so viel Durcheinander bringt sie in das Haus. Die Kater, eigentlich Hunde gewöhnt, machen einen großen Bogen um das Wohnzimmer. Sie kommen nur noch zu den Fütterungszeiten in die Diele und warten dort auf uns. Ricardo, von Natur aus ein schüchterner Kater, ist jetzt noch zusätzlich ängstlich. Mich nervt das, den Kater auch.

Die Hühner sind auch nicht entzückt, weil sie im Garten kläffend hinter ihnen herläuft. Erst mit knackigen, lauten Ansagen hört sie auf. Auch das ist nervig. Aber jetzt ist sie halt da, die Fußhupe. Wir müssen das Beste daraus machen. Es ist nur die eine Woche und die werden die Kater, die Hühner und ich überleben.

Entscheidung

Bedingt durch die Covid-19 Pandemie, habe ich zu meinen erwachsenen Kindern bereits seit vielen Wochen nur telefonischen Kontakt. Gerade jetzt ist die große Tochter schwanger und wird im August ihr erstes Kind gebären. Sie wird dies aller Voraussicht nach wohl auch ohne Unterstützung ihres Freundes machen müssen. Der darf bestimmt nicht mit dabei sein.

Mein Auto ist derweil voll mit Kartons in denen unzählige Stücke Kinderwäsche darauf warten wieder getragen zu werden. Hinzu kommt noch ein Kinderbett und diverses Spielzeug. Ich wollte ihr das bereits im März gebracht haben. Dann kam besagte Pandemie mit allen Auswirkungen. Das Risiko, sie anzustecken, war mir einfach zu groß. Jetzt ist es aber, gemessen an den Fallzahlen und meiner strikten Selbstisolation, ein für mich haltbares Risiko.

Morgen also werde ich die knapp 100 Kilometer angehen und die wichtigen Dinge abgeben. Die Freude auf beiden Seiten ist groß und wir werden unsere ganze Energie für den Abstand brauchen. Das ist echt eine Herausforderung.

Genauso, wie die Entscheidung, dass unsere jüngste Tochter an dem wöchentlich stattfindenden Unterricht doch teilnimmt. Wir waren erst strikt dagegen. Nachdem aber das Konzept der Schule wirklich gut gemacht ist und funktioniert, auch die Fallzahlen hier bei uns auf einem erquicklich niedrigen Stand sind, haben wir uns dafür entschieden.

Dass wir uns um solche Dinge in einer derartigen Form Gedanken machen müssen, wer hätte das gedacht?

Homeschooling

Seit Wochen sind die Schulen mit gutem Grund geschlossen. Die Kinder müssen zu Hause von den Eltern bei den Aufgaben unterstützt werden. Für viele Eltern ist das eine ungemeine Belastung und führt durch die Fülle an Aufgaben zu immenser Anspannung. An dieser Stelle möchte ich eine Lanze für unsere Schule brechen.

Die Lehrer haben sich zusammengesetzt, virtuell natürlich, und sich Gedanken gemacht. Die Digitalisierung ist hier, wie bei vielen anderen Schulen, im Grunde nie ein Thema gewesen. Deswegen war es schlicht nicht möglich, von heute auf morgen ein entsprechendes Programm aufzubauen.

Die Aufgaben der Kinder kamen dann, in Abstimmung mit den Eltern, per E-Mail. Wer keinen Drucker zur Verfügung hatte, konnte die Arbeitsblätter auch per Post erhalten. Viele Aufgaben aber waren schon in den entsprechenden Arbeitsheften enthalten. Zum Beispiel konnten die Kinder sich ein Buch ihrer Wahl aussuchen, mit dem sie dann lesen üben sollten. Es gab in Französisch eine Lektion über den Senegal, in der im Internet ein Video und ein Text zu lesen waren (auf Deutsch), danach sollten Fragen beantwortet werden. Es gab auch eine Geschichte aus dem Senegal, die die Kinder bereits als Heft vorliegen hatten. Zusammen aus diesen Materialien wurden Fragen beantwortet, Vokabeln gelernt und ganz nebenbei viel über Senegal.

Für Sport sollte Jonglieren mit Bällen geübt werden. Mathe fand nur im Arbeitsheft statt. Es gab viele, viele Wiederholungen, um das Wissen zu festigen. Nur in Deutsch mussten neue Regeln auswendig gelernt und im Arbeitsheft angewendet werden. Alles in allem waren die Aufgaben durchgehend so dosiert, dass die Kinder nicht überfordert waren. Natürlich wurde in den Wochen nicht so gelernt, wie in der Schule.

Jetzt kommt aber das große Aber! Wir konnten hier an unserer Tochter eine Veränderung feststellen. Sie übernahm und übernimmt immer noch, die Verantwortung für ihre Schulaufgaben. Alles wird selbstständig erledigt, nur da wo Hilfe nötig ist, kommt sie von selber. Von der Klassenlehrerin haben wir auch positives Feedback bekommen. Es ist ein Reifeprozess vollzogen worden, der vermutlich unter anderen Umständen, anders verlaufen wäre. Wissen können wir das nicht zu 100%, aber wir sehen mit Wohlwollen, was bei dem pubertierenden Kind vor sich geht.

Nach dem die Kinder jetzt zwei Mal zu jeweils 4 Stunden (wöchentlich 1 Tag) in halbierten Klassen in der Schule waren, hat die Lehrerin auch den Eindruck, dass es den Kindern durchweg gut geht. Sie kommen mit der Situation besser zurecht, als von der Schulleitung angenommen wurde.

Es gibt sich noch, die positiven Meldungen.

Rassismus

BLM

Ich habe Rassismus nicht am eigenen Leib kennengelernt. Diskrimierung wohl, aber Rassismus als weisser Deutscher, nein. Ich kann mich noch an Momente in meinem Leben erinnern, als mir selber klar wurde, dass das, was gerade gesagt oder gemacht wurde, nicht gut war.

Zum Beispiel ist da meine Oma, die mit mir in ganz jungen Jahren auf den Markt ging. Einmal schlug ich vor, die Kartoffeln doch an diesem einen Stand zu kaufen. Die Antwort: „Bei der Polacken-Magda kaufe ich nix, die ist dreckig und die Kartoffeln bestimmt auch!“ Als Kind hatte ich dem nichts entgegen zu setzen, aber ich habe mich gefragt, warum die Magda denn dreckig sein soll. Hier mag es sich um Diskrimierung handeln, ich sehe da auch konkreten Rassismus, weil im Haushalt der Großeltern auch von der Polacken-Rasse gesprochen wurde. Und nein, ich werde das hier nicht erklären. Es war halt so.

Später dann, als Jugendlicher, lernte ich über unsere Clique einen jungen Kenianer kennen, der mit seiner Familie gerade erst in Deutschland angekommen war. Er sprach nur Englisch und ich wollte die Chance ergreifen, mit ihm mein eigenes Englisch zu verbessern und, im Gegenzug, ihm mit der deutschen Sprache zu helfen. Meine Eltern erlaubten nicht, dass er zu uns nach Hause kam. Die Ausreden waren, dass man den ja nicht kennen würde, vielleicht wolle er nur ausspionieren was zu holen sei und man können DENEN nicht trauen. Am Ende haben wir uns in der Kneipe getroffen, gemeinsam Bier getrunken und abwechselnd Englisch und Deutsch gesprochen.

Rassismus ist die beschissenste Art zu denken, die man in seinem Kopf haben kann. Ich hasse diese Welt dafür, dass es Rassismus gibt und hoffe, wir werden diese Gedanken, dieses Handeln, aus unseren Köpfen entfernen können.

Umwelt und Schutz

Seit Jahren beschäftigen wir uns mit Umweltschutz. Nicht mit den großen Themen, die regelmäßig die Nachrichten überfordern. Wir haben überlegt und sind übereingekommen, dass wir an der Abholzung des Regenwaldes nichts ändern können, wir können die Ölkonzerne und die Automobilhersteller nicht zur Natur hinführen. Alles, was wir als Einzelpersonen auf der großen Bühne versuchen, wird im Strudel aller Themen vollkommen aufgefressen. Also, machen wir es anders.

In der Theorie haben wir uns überlegt, dass wir auf viele umweltfeindliche Produkte verzichten werden, bzw. diese durch andere, umweltfreundlichere ersetzen. Das ist, auf den ersten Blick vielleicht ganz einfach, da es ja Bio-Läden gibt, in denen man dieses und jenes kaufen kann. Auf den zweiten Blick aber muss man hinschauen, ob und wie das denn wirklich einen Beitrag leistet, ob es überhaupt besser ist.

Bio und Demeter sind nicht der Weisheit letzter Schluss. Für uns ist es aktuell wichtig, dass wir möglichst viel aus der Region kaufen. Damit wollen wir den CO2-Abdruck unserer Einkäufe reduzieren. Auf die Region kann ein solches Kaufverhalten zusätzlich einen positiven Einfluss haben. Das hat nichts mit Nationalismus zu tun, sondern ist einfach der Überlegung entsprungen, dass z.B. ein Apfel aus Deutschland, aus NRW, viel weniger gereist ist, als einer aus Neuseeland oder Israel usw…

Natürlich sind uns da bisher auch sehr fragwürdige Menschen begegnet. Da wäre zum Beispiel ein Lieferant aus dem Umkreis, der es sich zur Aufgabe machte, seine Gedanken zu allen Themen der Landwirtschaft ganz vorne auf der Internetseite als die Wahrheit schlechthin darzustellen. Inhaltlich hatte er sicherlich oftmals den Punkt getroffen, doch war die Ausführung in einer Weise nervtötend, dass ich das genau 2x gelesen habe.

Auch liegen den Lieferungen der Bio-Läden Zeitungen oder Flyer dabei, die, wenn man genau hinsieht, mindestens fragwürdig sind. Nicht alle, aber einige. Ich habe mal versucht, davon etwas zu lesen. Am Ende war es mir wichtiger den Apfel zu essen, anstatt auf den teilweise esoterischen Unsinn näher einzugehen.

Wir haben hier im Ort den großen Vorteil, dass wir z.B. einen Obst- und Gemüseladen haben, der ausschließlich aus der Region anbietet. Die Waren in dem Laden haben nur wenige Kilometer bis zur Auslage hinter sich gebracht. Da ist nicht alles Bio, muss es auch nicht. Es ist trotzdem für uns ein gutes Gefühl, diese Sachen zu kaufen. Im Zweifel kennt man ja sogar den Hof, von dem die Sachen kommen.

Hm, jetzt bin ich ein wenig vom Thema abgekommen. Was ich eigentlich sagen wollte war, dass man sich durchaus mit seinem Kaufverhalten, mit den Herstellverfahren und Inhaltsstoffen seiner Einkäufe beschäftigen sollte. Dabei muss man aber auch so stark sein, dass einen die Gruppierungen aus der, ich nenne sie mal „Bio-Radikal-Ecke“, nicht beeinflussen. Ich muss das nicht lesen und wenn ich es lese, muss ich es kritisch hinterfragen (wie sonst alles eben auch).

Wenn man sich mit etwas beschäftigt, muss man aufpassen, dass nicht die falschen Leute einen in die Finger kriegen. Die beste Verteidigung dagegen ist eben das Hinterfragen und selber Informieren. Vor allem aus unabhängigen Quellen, die eben nicht von der Gruppe empfohlen werden, über die man sich informieren möchte.

Sobald ich persönlich merke, dass jemand etwas mit Fanatismus betreibt, drehe ich mich um und gehe weg. Ganz weit und komme nie wieder.

Neue Hühner

Vor etwas mehr als 2 Jahren zogen drei Hühner in unseren Garten. Es ist viel passiert in der Zwischenzeit. Von unseren ersten naiven Versuchen, die Hühner einzuzäunen, damit sie nicht ganzen Garten um wühlen, bis hin zu den Fangaktionen, wenn eine der jungen Hennen es doch zu den Nachbarn geschafft hat. Außer den äußerst nützlichen und leckeren Eiern, haben wir die Hühner als tägliche Begleiter kennengelernt. Sie lernen schnell, sind zutraulich (oder nur verfressen) und können in einem begrenzten Rahmen mit uns kommunizieren.

Da wir die Hühner im Alter keinesfalls schlachten werden, aber auf die Eier nicht verzichten wollen, wenn die Damen keine mehr legen, haben wir und entschieden, einen größeren Stall aufzubauen. Das ist letzte Woche passiert und gestern sind zwei neue Hühner der Rasse Sperber eingezogen. Das allerdings war von Anfang an ein recht explosives Unterfangen, da es zu filmreifen Szenen kam.

Der neue Stall ist etwas anders als der vorherige. Der erste Stall ist mit einem kleinen Auslauf, aus dem Hühner nicht heraus können. Die FamS war nun aber der Meinung, die neuen Hühner kommen direkt in den neuen Stall, dann lässt sie den Deckel auf und legt ein Netz darüber, damit sie Tageslich bekommen. Das hat nicht ganz so gut geklappt.

Ein Huhn konnte sich trotz Netz ins Freie kämpfen und rannte sogleich quer durch den Garten. Hühner sind verdammt schnell und du hast im Grunde keine Chance sie einzuholen. Frau Sperber also hetzte die 50 Meter zum Zaun und sprang aus vollem Lauf darüber, zu den Nachbarn. Hinterher die FamS und die Tochter, die natürlich nicht über den Zaun springen konnten, sondern den Umweg nehmen mussten. Ich stand lachend auf der Terrasse und konnte mich leider nicht mehr einkriegen.

Es dauerte 10 Minuten, bis sie das Huhn wieder eingefangen hatten. Zu unserem Glück rannte es in die Einfahrt der Nachbarn, die nach 20 Metern in einer Sackgasse mit Mauer und Garage endet. Das Huhn war also wieder wohlbehütet im Stall. Dann kam die kleine Tochter unserer Freunde und wollte sich die Hühner anschauen. Unbeobachtet öffnete sie die Klappe zu den Nestern und zack, das nächste Huhn rannte durch de Garten. Die Aktion wurde dann aber mittels eines leeren Kartons und eines beherzten Wurfes der FamS recht schnell abgebrochen.

Jetzt stelle sich heraus, dass die älteren Gartenbewohner, die ersten drei Hennen, nicht amüsiert über den neuen Zuzug waren. Sie wollten nicht mehr ihn ihren Stall. Was also tun? Wir haben die zwei neuen Hühner dann in den alten Stall gesetzt, der mit dem integrierten Auslauf. Da hätten sie von Anfang an auch besser hingehört.

Was dann aber trotz Umzug der Neuen passierte, konnten wir kaum glauben. Die drei Damen scharrten vollkommen apathisch durch den Garten um ihren Stall herum. Sie trauten sich nicht in die Nähe des jetzt leeren Stalls. Sogar vor uns nahmen sie Reißaus und auch mit Futter ließen sie sich nicht überzeugen. Also mussten wir warten und beobachten, wo sie sich im Garten zur Nachtruhe niederließen. Als sie dann schliefen, pflückten wir sie eine nach der anderen aus ihrem Versteck und setzten sie in den Stall.

Das war schon ein sehr aufregender Tag mit den Hühnern. Heute morgen ging es dann weiter. Die zwei Neuen saßen in ihrem Auslaufgehege, während eines der älteren Hühner davor saß und stundenlang gackerte. Vielleicht hat sie ihnen etwas über den Garten erzählt, vielleicht hat sie ihnen Angst gemacht, geantwortet haben sie jedenfalls nicht.

Jetzt sind wir gespannt, wie sich alles entwickelt, ob die Hühner sich vertragen und bald gemeinsam durch den Garten scharren.

Rosalie und die Sperber Hühner.
Rosalie und die Sperber Hühner.

Sperber Hühner im Stall zur Eingewöhnung.
Sperber Hühner im Stall

Utopia 2150 (aus 2013)

Ich möchte ihnen diese Geschichte erzählen, nein, ich muss sie ihnen erzählen. Diese Episode der Menschheit darf nicht verlorengehen. Das Jahr 2156 hatte für mich viele Überraschungen bereit. Aber auf diese eine war ich nicht gefasst. Niemand wäre auf diese Erlebnisse vorbereitet gewesen. Die Zeit wird knapp, fangen wir an!

Die Welt hatte sich in all den Jahrzehnten nach den globalen Niedergängen der Weltmärkte nie wieder richtig erholt. Noch immer versuchten die Mächtigen der Welt ihre alten Positionen neu durchzusetzen. Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen, sie hatten nichts gelernt. Aber warum auch? Die Völker waren befriedet, der Zusammenbruch und die darauf folgenden Katastrophen leisteten ganze Arbeit.

Ich selber konnte zu der Zeit nicht klagen. Als Beauftragter der RED, Regiert Europa Demokratisch, der einzig verbliebenden europäischen Regierung, reiste ich durch die Länder und suchte nach Verbündeten. So der offizielle Teil. Insgeheim sollten aber auch ehemalige Städte ausfindig gemacht werden, die sich nach dem Crash aus dem System verabschiedet hatten. Die RED hatte eine Art Wiedereingliederung für diese Bezirke aufgestellt. Die alte Macht sollte erneuert und verbessert werden.

Die Ressourcen waren damals knapper denn je, aber niemand machte sich gezielt an die Erforschung neuerer Techniken. Die früheren Strukturen und Netzwerke waren im Chaos untergegangen. Weitreichender waren aber die Folgen des Vertrauensverlustes. Nachdem die ersten Nahrungsmittel ausfielen, rotteten sich Banden zusammen und begannen ihre blutigen Feldzüge. Ganze Ortschaften wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die Menschen argwöhnten hinter jedem Gesicht einen Lootie, so nannte man die marodierenden Gangs bald.

Die Lage beruhigte sich zwar wieder, da es viele verantwortungsvolle Menschen gab, die sich den Looties entgegenstellten, aber die Angst blieb in den Köpfen der Menschen stecken. Ein rostiger Nagel aus Argwohn und Verlustangst. Das erkannte die RED im richtigen Augenblick und startete ihre Kampagne zur Zusammenführung der alten Welt. Und ich spielte dabei eine der ganz großen Rollen. Praktisch an vorderster Front.

Wir schrieben den 15.08.2156, als ich in dem kleinen Ort am ehemaligen Niederrhein ankam. Eigentlich wäre dieser Ort nicht weiter wichtig gewesen, aber die Antwort auf unsere Anfrage hin war dermaßen verstörend, dass ich beschloss, trotzdem einen kurzen Besuch dort vorzunehmen. Keine Komplikationen erwartend, fuhr ich ohne den sonst typischen Begleitschutz. So sparte ich der Regierung einige kostbare Ressourcen. Das würde sich zumindest am Jahresende wieder positiv in meiner Freundschaftsausschüttung auswirken. Negativ bemerkbar hingegen machten sich die mich begrüßenden Vertreter der Stadt. Sie waren keine Offiziellen und betonten immer wieder, sie seien Bürger und Menschen, wie alle anderen im Ort.

Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass ich bis dahin noch nichts von der Stadt zu sehen bekommen hatte. Das erste Treffen fand ein wenig außerhalb statt. Irgendetwas kam mir komisch vor, von der seltsamen Zusammenkunft ganz abgesehen. Ich sagte aber zuerst nichts und wartete einfach die weitere Entwicklung ab. Im Laufe eben dieser sollte ich zu dem Schluss kommen, dass hier alle vollkommen verrückt sind. Als Nächstes erwartete ich eine kurze Vorstellung ihrer Stadt und einen Rundgang zu den wichtigsten Punkten.

Ein junger Mann und eine junge Frau traten auf mich zu: „Wir wollen nicht unhöflich erscheinen, aber es ist nur zu ihrem Besten, wenn wir ihnen einige Erklärungen geben, bevor wir die Stadt betreten. Die letzten Jahrzehnte haben viel verändert. Deswegen sind sie hier, deswegen haben wir vieles zu erläutern.“ Ich nickte zustimmend und verzichtete um der lieben Zeit willen auf einen Kommentar. Die junge Frau sprach mit einer Überzeugung in der Stimme weiter, wie sie mir bereits bei den anderen aufgefallen war: „Sie kennen die Geschichte des großen Zusammenbruchs aus den Anfängen des Jahrtausends. Wir alle kennen sie. Die Folgen sind in der Welt draußen noch immer nicht abgestellt, die Menschen kämpfen um ihre Macht. Sie lösen sich von allem Menschlichen und begehen furchtbare Gewalttaten. Macht und Ressourcen-Hunger sind die Allianz für eine neue Schreckensherrschaft. Wir erkennen, schauen wir in die Welt außerhalb unserer Stadt, unzählige Unbelehrbare, die immerzu blind in die Fußstapfen ihrer gescheiterten Ahnen treten.“ Sie hielt inne, holte Luft und schaute mich erwartungsvoll an. Ich beschloss noch immer nichts zu sagen und ermunterte sie weiter zu machen.

Doch nun nahm der junge Mann den Faden wieder auf: „Unsere Ahnen waren anders. Sie erkannten, nachdem die halbe Stadt in Schutt und Asche lag, dass der Weg nur in den Abgrund führt. Einen tieferen Abgrund, als sich jeder Mensch vorstellen kann. Sie beschlossen, dies radikal zu ändern. Und wenn ich nun radikal sage, meine ich es auch. Der Ansatz unserer Ahnen hatte etwas schier verrücktes zur Grundlage. Ein Plan, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Geschweige denn, jemand wäre in der Lage gewesen, auch nur ansatzweise solche Gedanken zu denken. Denn, das ist die einzig wahre und zwingende Logik dahinter, sie hatten das Grundproblem in seiner ganzen Dimension verstanden. Sie machten sich an die Beseitigung vieler Probleme, um am Ende das zu erhalten, was sie heute hier vorfinden werden.«

Nun, ich hatte tatsächlich immer noch keine Ahnung, von was die Beiden hier sprachen und machte meinem Unmut auch Luft: „Schön, schön, aber warum erklären sie mir, dass ihre Ahnen das machten, was alle beschäftigte – ihre Stadt wieder aufbauen?“, fragte ich sichtlich ungeduldig. Die Frau legte sanft eine Hand auf meinen Arm, ich zuckte erschrocken zurück. Sie lächelte freundlich: „Sehen sie? Sie haben Angst vor dieser kleinen Berührung gehabt. Und nun versuchen sie zu ergründen, warum sie vor mir zurückgewichen sind. Dann haben sie die Antwort, warum unsere Ahnen eben nicht das taten, was alle taten.“ Ich dachte kurz nach und erwiderte: „Ich habe keine Angst vor ihnen, mir sind Berührungen einfach unangenehm. So verhält man sich nicht!“ Sie lächelte noch immer und ich sah plötzlich in ihren Augen, dass sie jung aussah, aber keinesfalls unerfahren sein konnte. Es brannte ein loderndes Feuer in ihren Augen. Mir wurde kurz warm.

Der junge Mann wandte sich mir wieder zu: „Ihre Reaktion ist typisch für die Menschen aus der alten Welt. Sie haben Angst. Nicht vor der Berührung selber. Viele Menschen sehnen sich geradezu nach einer intimen aber freundlichen und aufmunternden Berührung durch andere Menschen. Viel zu selten legen sich die Menschen gegenseitig die Arme auf die Schultern und freuen sich für den Anderen. Es ist aber nicht die Berührung. Es ist eine Urangst in uns, die allen Menschen zu eigen ist. Es ist die Angst vor dem Verlust. Die Berührung durch einen anderen findet in einer solch kurzen Distanz statt, dass wir durch die äußeren Einflüsse getrieben, sofort den Verlust irgendeines uns wert erscheinenden Etwas fürchten. Besitz, Status oder was immer gerade für wichtig erachtet wird. Unsere Ahnen haben dies erkannt und abgestellt.“ Ich starrte ihn an: „Sie wollen mir erzählen, ihre Ahnen hätten die Angst in allen Menschen der Stadt abgestellt. Einfach so?“ Ich empörte mich geradezu und fühlte mich ein wenig belogen.

Sie lächelten beide und erfüllten mich mit Wut. Dieses ständige Lächeln. Ich fühlte mich herabgesetzt, sie untergruben mit ihrem dummen und naiven Grinsen meine Autorität. Ich musste einschreiten. Doch halt. Ich sah genauer hin. Nicht dumm. Nicht naiv. Freundlich, aber wissend. Bestimmt, aber nicht arrogant. Innerlich schüttelte ich die Wut kurz ab und dachte nach. Warum erzürnte mich ihr Lächeln so? Ich wollte es herausfinden, wurde mir aber des Schweigens bewusst. „Ähm, nun gut. Nehmen wir an, sie haben das geschafft. Wie haben sie es hingekriegt?“

Ein älterer Mann aus der Gruppe trat zu uns und nickte meinen bisherigen Gesprächspartnern zu. „Lassen sie mich versuchen, ihnen diese Dinge ein wenig zu erläutern. Wir haben vorhin gehört, dass die Menschen sich schlimme Dinge antun, weil sie Angst haben. Das einfache Volk hatte nach dem Crash wahnsinnige Angst vor Hungersnöten, die Regierenden sahen ihre schwindende Macht und fürchteten sich vor dem Kontrollverlust. Dieses Dilemma zog sich durch alle Bereiche des Daseins. Menschen hätten ohne Nahrung, ohne ein Dach über dem Kopf, ohne notwendige Hilfsmittel, kurz gesagt, ohne die Dinge des täglichen Lebens in der Welt stehen können. Das Materielle bekam durch den Schwund der Werte eine beschleunigte Bedeutung und alles klammerte sich an die alten Muster. Wir ließen nicht los. Da kam die Idee auf, den Menschen doch alle lebensnotwendigen Dinge zur Verfügung zu stellen. Durch ein System, dass sich von selber trägt. Keine Steuern, kein Geldfluss, da Geld letztlich keinen Sinn mehr machte. Der alte Stadtrat rief seine Bauern um Hilfe an. Umliegende Höfe wurden in den Plan eingeweiht, man schmiedete einen Plan und schloss einen Pakt mit den Bauern. Die Bauern sollten ihre Produktion umstellen. Die Stadt schickte Material und Ingenieure, die Bauern ließen das wichtige Wissen zur Landwirtschaft einfließen. Der Punkt war, dass die Stadtväter von damals den Menschen die Existenzangst nehmen wollten. Denn diese hatten sie als den Urheber von über 90% aller Kriminaldelikte nach dem Crash identifiziert. Als ersten Punkt auf ihrer noch sehr jungen Agenda stand die grundlegende Versorgung mit Nahrung. Nach nur zwei Jahren hatten es die Bauern und Ingenieure geschafft. Die Stadt konnte den Bürgern alle Grundnahrungsmittel kostenfrei zur Verfügung stellen. Im Ergebnis sank die Kriminalitätsrate um 45% – das war genau der Erfolg, den man sich erhoffte! Die Urahnen gingen aber noch weiter.“

Mir schwirrte es im Kopf. Ich hatte es einwandfrei mit Verrückten zu tun. Kein Mensch mit Verstand würde einfach Nahrungsmittel in die Welt kippen, ohne einen Wert zurückzufordern. Mir war bis dahin kein einziges Modell der Marktwirtschaft bekannt, das sich mit einem solchen Irrsinn beschäftigte. „Und nun wollen sie mir sicherlich erzählen, dass die Bauern das alles ohne Gegenleistung taten?“, blaffte ich die Gruppe an. „Niemand hat in dieser Welt etwas zu verschenken, Landwirte schon mal gar nicht. Wollen sie mich für dumm verkaufen? Wie soll es denn weitergehen? Die Menschen haben nun Nahrung. Und was hatten die Ingenieure damit zu tun? Die Landwirte waren doch schon vorher in der Lage ihre Felder zu bestellen.“ Ich schaute Zustimmung heischend in die Augen der Personen um mich herum. Nichts änderte sich an ihrem Verhalten mir gegenüber. Sie lächelten mich freundlich an und ließen sich durch meine Äußerungen nicht aus der Ruhe bringen.

„Das Modell ihrer Marktwirtschaft, egal welches, hat seine Existenzberechtigung mit dem Crash verloren. Es brachte die Looties hervor, es säte Gewalt, noch mehr Angst und aus der Saat wuchsen Friedhöfe. Dunkelheit und Verlust aller Kontrolle waren die Ernten, die sie einfuhren. Damals. Was unsere Stadtväter von damals versuchten, war ein historisch einmaliger Ansatz, allen Problemen der Menschen nach und nach eine Lösung zu bieten. Angefangen mit der Nahrung, machten sich die Ingenieure daran, die Maschinen zu perfektionieren. Die Bauern waren die Ersten, die in den Genuss der neu entstehenden Technik kamen. Es gab plötzlich Höfe, die funktionierten fast automatisch. In einer Art und Weise, die sie sich nicht vorstellen können. Kein Trecker musste mehr über die Felder gelenkt, keine Kuh an die Melkmaschinen angeschlossen, kein Stall manuell gesäubert und kein Tier von Hand gefüttert werden. Einzig die Schlachtungen, die führten die Bauern selber durch. Zwar mit größtmöglicher Automation, aber das Sterben der Tiere wurde von den Landwirten begleitet. Die Ingenieure hatten wahnwitzige Ideen umgesetzt. Mit ihnen, Landwirten und Ingenieuren, erwuchs eine vollkommen neue Betrachtungsweise der Technik: »Der Nutzen, den man aus perfektionierten Maschinen ziehen konnte, wenn im Plan als Ziel geschrieben stand, dass kein Mensch mehr der Sklave einer Arbeit sein soll, die einzig der Maximierung von Gewinnen gewidmet ist.« Die Alten brachten ein Manifest auf den Weg, welches bis heute immer wieder verbessert wurde. Die Angst vor Veränderungen, die kann den Menschen auch genommen werden, wenn man sie involviert. Wenn sie Teil des Ganzen sind. Wenn sie jede Entscheidung mittragen. Von Anfang an war den Vätern klar, am Ende würde niemand mehr einer Arbeit nachgehen, die von Dividenden, Aktien und Portfolios bestimmt wurde. Es würde einfach keine Notwendigkeit mehr bestehen. Wieder ein wahnwitziger Gedanke, aber auch dieser wurde umgesetzt. Zwar erst später, aber es klappte.“

Ich atmete schwer. Diese Irren hier versuchten mir nun aufzutischen, dass sie kostenlos Nahrungsmittel ausgaben und niemand mehr die Notwendigkeit hatte zu arbeiten? Ich schüttelte energisch den Kopf. „Liebe Leute,“ versuchte ich es im Guten, „wo soll das denn hinführen? Wie finanziert sich so etwas denn? Wer kommt dafür auf?“ Ich ließ Maschinengewehrsalven von meinen Fragen auf die Gruppe los. Sie ertrugen es geduldig und schwankten nicht eine Sekunde.

Die junge Frau blickte mich an. Lächelnd. Mir fiel plötzlich auf, dass von dieser Gruppe überhaupt keine Aggression ausging. Sie waren ruhig, in sich vollkommen sicher und, fast weigerte sich der Gedanke gedacht zu werden, ohne jede Angst. Immerhin konnte ich über ihr Schicksal entscheiden, als Gesandter der RED. Doch sie erschienen so unbekümmert, ja gradezu frei zu sein, dass nichts auf der Welt ihnen etwas anhaben konnte.

„Die Perfektion der Maschine. Nicht in ihrer Funktion, sondern in ihrem Nutzen für den Menschen. Wenn sie dies erreicht haben, können sie anfangen und all das umsetzen. Wir, das heißt unsere Ahnen, schlossen anfänglich den Pakt mit Landwirten und Ingenieuren. Danach gingen sie auf die Bevölkerung zu. Sie gaben ihnen Nahrung, die Grundversorgung. Man ließ nach und nach von allem Materiellen los. Alle Menschen in der Stadt sollten die gleichen Lebensbedingungen vorfinden. Gleiche Chancen für alle. Dies konnte nur erreicht werden, wenn die Menschen nicht jeden Tag die meiste Zeit in Fabriken oder Büros zubrachten. Die Befreiung des Arbeiters vom Müssen. Die Befreiung vom Mietzins. Die Befreiung von Steuern. Die grundlegende Änderung eines kaputten Bildungssystems. Lassen sie mich ihnen versichern, dass all das, und vieles mehr, unseren Stadtvätern damals eingefallen ist, sie haben es niedergeschrieben und die nachfolgenden Generationen haben weiter gemacht. Die Menschen hatten erkannt, dass dies der richtige Weg war. Nach den Grundbedürfnissen wurde nicht halt gemacht. Die Menschen trieben mit ständigen Verbesserungen die Entwicklung weiter voran. Unsere Versorgungstechnik in der Stadt ist technisch auf dem höchsten Stand, kann aber, weil sie dem Menschen nutzen soll, von praktisch jedem Bürger der Stadt bedient werden. Damit ist sichergestellt, dass Defekte oder notwendige Inspektionen nicht nur von Spezialisten durchgeführt werden können. Wir haben unser System so aufgebaut, dass von Kindesbeinen an die Funktionsweise der Gesellschaft, der Technik und der weiteren Entwicklung verstanden wird. Egal welchen Weg ein junger Mensch gehen möchte, die Basis ist immer abgedeckt. Ob sie nun Biologe, Architekt oder Physiker werden wollen, es steht alles offen. Mit dem offenen System haben wir es in den letzten 8 Jahrzehnten geschafft, dass jedes Kind am Ende zu einem Studium greift.“

Sie schauten mich an. Ich grinste irr zurück. Verstand? Wo war mein Verstand geblieben? Warum hörte ich mir diesen Mist an? Ja, es hörte sich verheißungsvoll an. Sehnsüchte wurden in mir geweckt, die ich vorher nicht kannte. Ich sah mich im Auftrag der RED mit Menschen reden, denen ich Versprechungen machte, von denen klar war, sie würden niemals eingehalten werden können. Und hier traf ich auf das vollkommene Gegenteil. Bei all dem wurde mir bewusst, dass nicht einmal das Wort Religion gefallen war. Dieser Aspekt machte mich neugierig. Da stand scheinbar ein Heer von Technokraten vor mir, aber der Glaube an Götter würde sie Lüge strafen. Ich fragte offen und direkt nach. Götter, gab es diese hier noch?

„Die alten Religionen“, erklärte der junge Mann zu dem Thema, „sind eben alt. Sie waren eng mit dem Wertesystem verwoben. Als dieses zusammenbrach, verloren die hungernden Propheten mehr als den Glauben in ihre Götter. Während die Menschen bibbernd und hungernd in den Kirchen saßen, stiegen die Büttel der hohen Geister in die Wohnungen ein und bemächtigten sich der letzten Habe. Nein, auf unserem Weg steht die Religion nicht mehr zur Debatte. Sie ist über. Aber nicht aus irgendeinem Eigennutz der Menschen, sondern, weil man sich aus Angst an die unsichtbaren Wesen wandte. Mit dem Sieg über die Angst der Menschen, hatte sich das Thema Religion auch erledigt. Auch die Angst vor dem Sterben ist nicht mehr vorhanden. Ein Mensch, der ein Leben ohne Angst führen konnte, der viel Zeit mit Muße und Verwirklichung verbrachte, hat am Ende seines Lebens nichts zu fürchten. Aus diesem Grund haben wir keine Altersheime oder große Krankenhäuser, wie sie früher üblich waren. Wir geleiten unsere Alten ehrenvoll hinüber. Lebensverlängernde Maßnahmen gibt es nicht bei uns. Es gibt aber auch kaum tödliche Krankheiten, die einen Menschen in der Blüte seiner Jahre hinwegraffen. Und wenn jemand gehen möchte, weil er das Gefühl hat, er hat alles getan und alles erledigt, so soll er gehen. Wir stellen dies nicht an den moralischen Pranger. Früher sprach man von Verantwortung der Menschen, die sie tragen müssten. Unsere Gesellschaft ist stark und warum die Schultern einzelner belasten, wenn das Gewicht für alle besser verteilt werden kann? Die Menschen kümmern sich um Menschen. Und dies tun sie, weil sie dafür die Lebenszeit zurückerhalten haben und weil sie nichts fürchten müssen. Unsere Einschnitte insgesamt sind so tiefgreifend, dass wir noch lange nicht am Ende der Entwicklung angekommen sind. Nein, vielmehr wird es so sein, dass sich die Gesellschaft immer verändern wird, sie muss es einfach. Um bestehen zu können. So bringen wir nach und nach alle Veränderungen gemeinsam ein. Die Gesellschaft bestimmt über die Entwicklung, nicht ein Markt, die Technik oder imaginäre Gewinnspannen.“

Später in der Stadt sah ich es. Sie hatten nicht gelogen. Die Technik war zum maximalen Nutzen für den Menschen herangereift. Aber nur, weil niemand einen eigennützigen Gewinn aus dem Unternehmen „Utopia“ ziehen wollte. Weil man die Menschen als Menschen verstand. Man nahm sich der Ängste an, beseitigte diese, stellte die Versorgung mit allen möglichen Dingen sicher und gab den Menschen die Muße des Lebens zurück. Die Vernetzung über alle Wohnbereiche ermöglichte die Kommunikation der Einwohner bei wichtigen Entscheidungen. Es gab keine Stadtväter mehr, Verbesserungen ergaben sich immer aus der Gemeinschaft heraus. Jeder Schulabsolvent hatte Stimmrecht, jeder konnte Vorschläge machen, und alle gemeinsam stimmten sie über die anzugehenden Projekte ab.

Ich habe dies so niedergeschrieben, damit es nicht vergessen wird. Denn außerhalb unserer Stadt formieren sich die Märkte neu. Immobilien, Ressourcen und Edelmetalle sind wieder hoch im Kurs. Sie wissen noch nicht von uns. Ich blieb in der Stadt und legte für meine Auftraggeber eine falsche Spur. Seitdem lebe ich frei von Ängsten. Wir haben hier auch keine Angst vor den Märkten draußen, es sind die Ängste der Menschen, die uns verunsichern. Es erscheint fraglich, ob wir Wenigen es schaffen können, sie dahin zu bringen, wo wir nun sind. In ein freies Leben – befreit von Sachzwängen und materiellen Besitzansprüchen. Wir gehen davon aus, dass unsere Technik für andere Zwecke eingesetzt werden wird. Aber noch hält unser Schutzschirm sie ab, noch können sie uns nicht sehen.